Fridays for Future und die Novemberrevolution

Wenn sich viele junge Menschen verraten fühlen, ist das für die betroffenen Blender kein gutes Gefühl. Foto: Leonhard Lenz / CC0 1.0

Wer hat eigentlich das Copyright auf die Parole "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" - und wodurch droht die Radikalisierung der Klimaschutzbewegung?

Kann es ernsthaft als Verrat bezeichnet werden, wenn eine Partei im Wahlkampf mit Unwahrheiten arbeitet, oder ist das eher handelsübliche Verarsche, auf die volljährige Menschen zumindest dann vorbereitet sein müssten, wenn diese Partei vor der Wahl schon an der Regierung beteiligt war und oft genug gezeigt hat, was von ihr zu halten ist? Erwartet irgendjemand in Wahlkampfaussagen mehr Wahrheitsgehalt als in einem Werbespot, in dem behauptet wird, Milchschokolade sei gesund für Kinder?

Im engen Wortsinn können Geheimnisse verraten werden, indem man sie ausplaudert - wer dagegen einfach nur ein Versprechen nicht hält, begeht einen Vertrauensbruch.

Als Synonym dafür hat sich "Verrat" aber seit mehr als 100 Jahren etabliert. Wer 1918 Rätedemokratie und Sozialismus wollte, warf der SPD nach der Novemberrevolution Verrat an der revolutionären Arbeiterbewegung vor. Was heute in bürgerlichen Kreisen als Akt der Vernunft dargestellt wird, mit der ein gefährliches Experiment verhindert werden sollte, war Verrat aus der Sicht derjenigen, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kein gefährlicheres Experiment vorstellen konnten, als weiterhin zuzulassen, dass beispielsweise mit Rüstungsgütern Profit gemacht wird.

Parolen wie "Alle Macht den Räten", "Alles Land den Bauern" und "Frieden um jeden Preis", wie sie aus der jungen Sowjetunion kamen, konnten für kriegsmüde Soldaten nicht unvernünftig klingen. SPD-Chef Friedrich Ebert, alsbald Reichspräsident der Weimarer Republik, waren sie zu radikal, hatte seine Partei doch vier Jahre zuvor im Reichstag die Kriegskredite bewilligt - mit Ausnahme des Abgeordneten Karl Liebknecht, der nun auf der Seite der Revolution stand.

Eine Antwort war die Parole "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten", die von Linken auch fast 90 Jahre später bei Protesten gegen die "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" der Agenda 2010 und die Einführung der Hartz-IV-Sanktionen wieder gerufen wurde.

Nun tauchte sie auch noch bei Protestaktionen der Jugendbewegung Fridays for Future gegen den bisherigen Tenor der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP auf: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten"; angeblich ergänzt durch "Wer war mit dabei, die grüne Partei". Auch das war schon aus der Zeit der Hartz-IV-Proteste bekannt, denn die "Reformen" waren ja von einer "rot-grünen" Bundesregierung durchgedrückt worden.

Wer hätte das gedacht?

Aber Fridays for Future hätten anscheinend viele diese Parole nicht zugetraut; und so wurde sie am Wochenende zum Aufreger. "Nazisprech" nannte es die mäßig bekannte FDP-Politikerin Karoline Preisler auf Twitter, ließ aber offen, ob sie Nazis nun tatsächlich schlimmer findet als Linke oder doch zufällig umgekehrt. "‘Wer hat uns verraten?‘ Echt jetzt?! Was kommt noch? 'Für Frieden und Sozialismus seid bereit!‘? Wer in der #DDR gegen Sozialismus war, war in Demagogenlogik gegen den Frieden. Das hat damals gereicht, um Menschen einzusperren", empörte sich Preisler. "Rhetorik aus der Hölle. Nazisprech." Genüsslich aufgegriffen wurde der Tweet von der Online-Ausgabe der Tageszeitung Die Welt aus dem Hause Springer, die daraus gleich eine "Kontroverse" machte.

Tatsächlich hatten wohl auch die Nazis die Parole "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten" einmal verwendet - allerdings ergänzt durch "Wer macht euch frei? Die Hitler-Partei!"

Bedeutet das nun im Umkehrschluss, dass die SPD bis heute immer die Wahrheit sagt, weil unter anderem Nazis in den frühen 1930er-Jahren behauptet haben, sie täte es nicht? Nun, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat für sich unter anderem als "Kanzler für Klimaschutz" werben lassen. Das wäre noch zu beweisen. Das kürzlich veröffentlichte Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP gab dergleichen jedenfalls nicht her.

Die Parteien sollen beim Wort genommen werden – mindestens

Die Aktionstage, an denen Fridays for Future in der Hauptstadt teilnimmt, sollen ausdrücklich dazu dienen, die Parteien während der Koalitionsverhandlungen unter Druck zu setzen, damit sich insbesondere SPD und Grüne wenigstens an ihre Wahlversprechen in Sachen Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit erinnern, im Idealfall aber sogar mehr liefern als in ihren Programmen steht. Deshalb blockierten Umweltbewegte verschiedener Gruppen unter dem Motto "Gerechtigkeit jetzt!" in den letzten Tagen unter anderem die Kreuzung vor der SPD-Zentrale im Willy-Brandt-Haus besetzten kurzzeitig die Grünen-Zentrale.

Wenn die Parteien deutlich weniger liefern als versprochen - was sie im Sondierungspapier bereits angedeutet haben - dann haben zumindest diejenigen einen Grund, sich verraten zu fühlen, die den beiden Parteien bisher ansatzweise geglaubt haben. Und das sind nicht die erfahrenen Linksradikalen. Das sind tatsächlich junge Menschen, denen der Verfassungsschutz in seinem Bericht vor wenigen Monaten noch erzählen wollte, es gebe da ein paar böse Menschen aus der linksradikalen Szene, die sich an ihre Bewegungen dranhängen, um sie zu radikalisieren.

Tatsächlich droht die Radikalisierung nicht durch Einflüsterungen linker Kleingruppen, sondern durch den Wortbruch etablierter Parteien, die im Wahlkampf ein bisschen so getan haben, als seien sie Teil von sozialen und ökologischen Protestbewegungen. Teile ihrer Nachwuchsorganisationen, der Jusos und der Grünen Jugend, sind das vielleicht auch und meinen es ehrlich. Aber das wird von den Parteispitzen nur instrumentalisierend geduldet, solange es geht.

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