COVID-19: Was hinter der Triage steckt

Es wird so eng auf den ersten Intensivstationen, dass bald Betten nach Kriterienkatalogen vergeben werden müssen: Intensiv oder Palliativ.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 741 Kommentare lesen

(Bild: pixelaway / shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.

Es ist soweit – unser Gesundheitssystem ist überlastet. Die Ursachen dafür sind divers, der Auslöser sind explodierende Infektionszahlen mit einer Krankheit, die 0,8 Prozent der mit SARS-CoV-2 Infizierten auf die Intensivstation bringt. Dass diese Zahl so klein ist – im Vergleich zur ersten Welle, bei der sechs Prozent aller Infizierten intensivpflichtig wurden –, liegt laut Reinhard Busse, dem Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen der TU Berlin, daran, dass es inzwischen so viele geimpfte Infizierte gebe. Aber den Impf-Bonus fressen die Inzidenzen derzeit wieder auf: Bei einer durchschnittlichen Inzidenz von 419 in Deutschland (Stand 25.11.2021) bedeutet das, dass 3,4 von 100.000 Menschen zu Intensivpatienten werden. Also über 2.700 COVID-Patienten werden derzeit deutschlandweit jede Woche intensivpflichtig.

Da COVID-Patienten in der Regel fast dreimal so lange auf der Intensivstation bleiben müssen, wie durchschnittliche Intensivpatienten – nämlich in der Regel elf statt vier Tage – greifen auch nicht die normalen Kalkulationen für turnusmäßig frei werdende Betten. Und dann sind die Inzidenzen natürlich auch nicht gleichmäßig über das Land verteilt. Die beiden Enden liegen in Schleswig-Holstein mit einer Inzidenz von 152,7 und Sachsen mit 1074,6. Das bedeutet allein in der letzten Woche kamen in Sachsen 43.597 COVID-Fälle hinzu. Von diesen werden voraussichtlich etwa 350 Menschen auf einer Intensivstation betreut werden müssen.

Diese Zahlen machen deutlich: In einigen Teilen Deutschlands – zuerst in Sachsen – werden Ärztinnen und Ärzte in Kürze vor der Entscheidung stehen, welchem Patienten sie das letzte freie Intensivbett geben. Sie müssen entscheiden, wer eine Chance bekommt und wer nur noch beim Sterben begleitet werden kann. Sie handeln dabei nach Kriterien, die ihnen helfen, ihre Patienten in die richtigen Schweregrad-Kategorien einzusortieren. Sortieren heißt auf Französisch "trier" und gibt diesem Verfahren für den Notfall seinen Namen: Triage.

Triage ist in der Öffentlichkeit neu, erschreckend und macht die Dimension, die die Pandemie derzeit annimmt, überdeutlich. Für Ärztinnen und Ärzte ist sie jedoch medizinischer Alltag. Jeden Tag müssen die eingehenden Notfälle triagiert werden. Dafür stehen verschiedene Systeme zur Verfügung: Die individuelle, erfahrungsbasierte Einschätzung der Ärztinnen und Ärzte vom Dienst, Ampelsysteme, die Patienten nach "Notfall", "dringlich" und "weniger dringlich" einstufen sowie international anerkannte fünfstufige Triage-Systeme. Die Berliner Charité nutzt beispielsweise das Manchester Triage System, um seine Notaufnahme zu organisieren.

Anders gelagert – und dem derzeitigen Pandemie-Geschehen schon ein wenig ähnlicher – sind die Triage-Anforderungen in Katastrophenfällen. Sei es eine Massenkarambolage auf der Autobahn, ein Zugunglück, Kriege oder andere Katastrophen, bei denen sehr viele schwer verletzte Menschen auf einmal notärztlich versorgt werden müssen. In diesen Fällen greift die Annahme, dass nicht allen Patienten gleichermaßen geholfen werden kann. Es werden die Menschen zuerst behandelt, die die größten Chancen haben, zu überleben.

Eine gesetzliche Grundlage für die Anwendung der Triage gibt es in Deutschland nicht. Allerdings hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., kurz AWMF, im April 2020 eine Leitlinie zur "Entscheidung über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie" erarbeitet. Sie gibt dem ärztlichen Personal eine transparente Schritt-für-Schritt Anleitung nach dem Mehraugenprinzip an die Hand. In vier Schritten werden die Ärztinnen und Ärzte durch den Entscheidungsprozess geführt: Besteht intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit? Besteht eine realistische klinische Erfolgsaussicht einer Intensivtherapie zum aktuellen Zeitpunkt? Liegt die Einwilligung des Patienten vor? Und dann kommt die Prüfung verschiedener Kriterien nach dem Mehraugenprinzip: Schweregrad der aktuellen Erkrankung, begleitende akute Organversagen, Krankheitsmarker, die eine Prognose ermöglichen, weitere Erkrankungen, Immunschwäche, Gebrechlichkeit,… Und auch nach der Entscheidung für die Intensivbehandlung kann diese wieder beendet werden, wenn die Behandlung nicht den erhofften Erfolg bringt.

Auf dieses Fließdiagramm werden Medizinerinnen und Mediziner in Sachsen vermutlich in den nächsten Tagen zugreifen. Diese Fassung spart die Frage nach dem Impfstatus der COVID-19 Erkrankten aus, aber noch in dieser Woche wird eine neue Fassung des Fließdiagramms erwartet, die die Gleichbehandlung von geimpften und ungeimpften Patienten berücksichtigen soll, ebenso wie das Gleichheitsgebot für COVID- und Nicht-COVID-Patienten, wenn Ressourcen aufgestockt und Notfallbetten aktiviert werden.

Auch wenn die neue Fassung noch nicht veröffentlicht ist – die Aussagen unterschiedlicher Experten geben Hinweise auf die Stoßrichtung: Die Bewertungen werden wohl auch weiterhin unabhängig vom Impfstatus vorgenommen. Jeder Patient – ob geimpft oder nicht – hat das gleiche Recht auf die bestmögliche Behandlung. Allerdings hat die Impfung direkten Einfluss auf die Prognose des Patienten – Ungeimpfte haben geringere Überlebenschancen als Geimpfte. Damit bekäme die geimpfte Person – bei ansonsten vergleichbaren gesundheitlichen Voraussetzungen – eher das Intensivbett.

Und mit der neuen Fassung wird ebenfalls eine Sensibilisierung für die Gleichbehandlung von schwerkranken Nicht-COVID-Patienten mit nicht infizierten Patienten angestrebt. Die unterliegen ohnehin bereits jetzt einer Triage "light" – oder "weichen" Triage, wie Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Uniklinik Köln sagt: "Wir haben schon heute eine weiche Triage, die zum Beispiel dann eintritt, wenn ein Herzinfarktpatient eine Stunde im Rettungswagen herumgefahren wird, der kein Krankenhaus mit einem freien Intensivbett findet. Diese Situation ist im Süden und Osten von Deutschland bereits eingetreten."

(jsc)