Zahlen, Bitte! Flachland – vom Flatland und der Akzeptanz der vierten Dimension

Eine Satire auf das viktorianische England wurde zum großen Erfolg und half sogar, die Perspektive von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie zu verstehen.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Vor 138 Jahren veröffentlichte der englische Pädagoge und Theologe Edwin Abbott Abbott die Erzählung "Flächenland. Ein Märchen mit vielerlei Dimensionen". Sie spielt in einem Land, das nur zwei Dimensionen kennt und in einem Gesellschaftssystem, das von einem strikten Kastendenken geprägt ist. "Flächenland" ist eine überaus ätzende Satire auf das viktorianische England und war das erfolgreichste Buch von Abbott, das bis heute in einer Vielzahl von Auflagen gedruckt wurde. Die Wikipedia stuft die Erzählung wahlweise als mathematische Science Fiction oder mathematische Satire ein.

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Edwin Abbott Abbotts Flächenland ist zweidimensional. Vom Leben im Flächenland (in älteren Übersetzungen auch Flachland genannt) berichtet ein Rechtwinkliger (im Original "A.Square"), der den Alltag einer Kastengesellschaft schildert. Ganz unten sind die Arbeiter und Soldaten, spitzwinklige Dreiecke, Figuren, "die es kaum verdient haben, als menschliche Figuren bezeichnet zu werden, weil an ihnen nicht alle Seiten gleich sind", berichtet der Rechtwinklige verächtlich.


Edwin Abbott Abbott ( *20. Dezember 1838, London, England, † 12. Oktober 1926, ebenda). Er schuf mit der bissigen Satire "Flatland" einen surrealen Roman, der viele Menschen anregte, die eigene Perspektive zu überdenken.

(Bild: gemeinfrei)

Die Dreiecke können andere Flachwesen mit ihren spitzen Winkeln verletzen. Sie haben kaum Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg und können nur darauf hoffen, dass sie Kinder bekommen, die sich dem Ideal der gleichschenkeligen Dreiecke annähern, die den Mittelstand im Flächenland bilden.

Die Oberschicht beginnt mit den einfachen Rechtwinkligen, wie es der Berichterstatter ist. Für diese Wohlproportionierten gibt es genug Aufstiegsmöglichkeiten, denn die Kinder eines Rechtwinkligen sind Fünfecke, ihre Kinder Sechsecke usw. Ganz oben befinden sich die Flachwesen der Vielecke, die in höchster Vollendung als Kreise wahrgenommen werden und die Priesterkaste bilden.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Das elendige Leben im Flächenland führen jedoch die Frauen, einfache Striche, die in der Fläche nur als Punkte wahrgenommen werden. Sie müssen deshalb fortlaufend mit dem Hinterteil wackeln, damit sie als Strich und damit als Frau wahrgenommen werden. Wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, müssen sie zudem fortlaufend schreien, denn der unbedachte Kontakt eines Flächenwesens mit einem Strich kann tödlich sein. Dementsprechend haben die meist fünfeckigen Häuser im Flächenland zwei Eingänge, einen großen für Männer im Westen und einen engen für Frauen im Osten.

Illustration aus dem "Flatland"-Roman: Schema einer Wohnung in Flachland. Die Zimmer sind nach der geometrischen Art der Personen getrennt.

Die geometrische Ordnung im Flächenland kennt keine Mischformen und so treibt Abbott den Utilitarismus von Jeremy Bentham parodierend auf die Spitze: "Zweifellos ist das Leben eines Unregelmäßigen hart; aber die Interessen der großen Gemeinschaft verlangen, dass es hart sein muss. Wenn ein Mensch mit dreieckiger Stirnseite und vieleckigem Hinterteil existieren und eine noch regelwidrigere Nachkommenschaft zeugen dürfte, was würde aus den Künsten des Lebens werden?"

Das strikte Kastensystem regiert auch die Kommunikation. Während die Oberschicht der regelmäßigen Vielecke und Kreise auf vornehmen Schulen lernt, wie man die Geometrie eines Gegenübers sehen kann, ist die Unterschicht der Dreiecke auf das gegenseitige Betasten angewiesen. So verspottet der langjährige Schulleiter der City of London School seine Zunft:
"Von der Wiege bis zur Bahre werden die Kinder hier, anstatt die Volksschulen zu besuchen (wo die Kunst des 'Betastens' gelehrt wird), in höhere Bildungsanstalten geschickt, die nur wenigen zugänglich sind; und an unserer berühmten Universität wird 'Betasten' als schweres Vergehen betrachtet, das mit Verbannung aufs Land für den ersten Verstoß und Ausweisung für den zweiten geahndet wird."

Das der Oberschicht anerzogene Talent zum Sehen wird für den Rechtwinkligen in der Folge der Erzählung wichtig, denn er hat einen Traum. In ihm befindet er sich auf einmal in einem Land mit einer einzigen Dimension, dem Linienland. Hier spielt sich das Leben auf einer einzigen Linie ab und die Wesen auf dieser Linie können sich nur durch Hören erkennen. Nur der König besitzt große Augen, mit denen er all seine Untertanen sehen kann. Der Rechtwinklige versucht, dem König das Konzept des zweidimensionalen Raumes zu erklären und entfernt sich von der Linie, auf der er mit dem König diskutiert hat.

Der ist sauer, weil er die Beschreibung von anderen Linien, die eine Fläche ausmachen, nicht verstanden hatte:
"Statt dich zu bewegen, vollführst du bloß irgendeinen Zaubertrick, der dich verschwinden und wieder sichtbar werden lässt." Resigniert wacht der Rechtwinklige im Flächenland auf, nur um sich mit seinem Enkelkind, einem aufmüpfigen Sechseck zu streiten. Der hatte gerade Mathematikunterricht gehabt, 33 kennengelernt und wollte von seinem Opa wissen, wie 33 aussehen mag. Der schickt ihn verärgert ins Bett, da es keine dritte Dimension geben kann.

Kurze Zeit später bekommt der Rechtwinkelige Besuch von "Lord Sphere", einem kugelförmigen Wesen aus der dritten Dimension und sieht in der Ebene ein Bild, das sich für ihn unerklärlicherweise laufend ändert -- die Kugel gleitet durch die Sichtebene der Fläche, die der Rechtwinklige sehen kann.

Illustration aus dem "Flatland"-Roman: Der Blickwinkel auf Linienland.

Der Kugelförmige versucht nun seinerseits, dem Rechtwinkligen das Konzept der dritten Dimension zu erklären. Das gelingt ihm erst, als er den Rechtwinkligen aus der Ebene löst und ihm die dreidimensionale Welt zeigt, die von Zylindern und Kegeln, von Hexaedern und Dodekaedern bevölkert ist. Der Rechtwinklige ist begeistert und wird eine Art 3D-Fundamentalist – bis zu dem Moment, als er den Kugelförmigen bittet, seine Eingeweide zu zeigen, wie das einem Wesen möglich sein sollte, das die vierte Dimension beherrscht. Natürlich lehnt der Kugelförmige das Ansinnen des Rechtwinkligen ab, da für ihn der Griff in die Eingeweide nicht möglich ist. Es gibt keine vierte Dimension!

So kehrt der Rechtwinklige ins Flächenland zurück und versucht dort die Flächenwesen von der Existenz von Raumland zu überzeugen. Dafür wird er ins Gefängnis geworfen. Dort vergleicht er sich mit Prometheus, der den Sterblichen in Raumland das Feuer gebracht hatte. Als Prometheus klagt er:
"Ich lebe trotzdem in der Hoffnung, dass diese Erinnerungen in irgendeiner Weise -- wie, weiß ich nicht, ihren Weg in die Köpfe der Menschheit in irgendeiner Dimension finden mögen, und ein Geschlecht der Rebellen erwecken, welche sich dagegen wehren mögen, in einer beschränkten Dimensionalität eingeengt zu sein."

Was dem Rechtwinkligen versagt blieb, wurde Edwin Abbott Abbott zuteil. Seine Erzählung wurde ein immens großer Erfolg, der viele Auflagen erlebte. Der Science-Fiction-Autor H.G. Wells verwies in seinem Werk Die Zeitmaschine von 1895 direkt auf Abbott und erklärte die vierte Dimension als diejenige, in der Zeitreisen erfolgen können. Abbott wurde vom großen Mathematiker Henri Poincaré in seinem 1902 geschriebenen Buch "Wissenschaft und Hypothese" als Warnung erwähnt, bei geometrischen Problemen nicht zu beschränkt zu denken.

Die größte Würdigung dürfte ein Leserbrief sein, der am 12. Februar 1920 in der Zeitschrift Nature erschien. In dieser Ausgabe wurden die ersten Ergebnisse des Eddington Experiments aus dem Jahre 1919 veröffentlicht, die die Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein bestätigten. Der Briefschreiber appellierte an seine Leser, sich von Abbotts Welt zu lösen und die von Einstein behauptete Krümmung des Raumes durch die Gravitation zu akzeptieren.

Später erschienen etliche Bücher, die die Geschichte vom Flächenland veränderten und die sarkastische Darstellung der Rolle der Frauen abmilderten. Abbott selbst war ein unerschütterlicher Vertreter der Gleichberechtigung von Mann und Frau, seine studierten Töchter stritten für die Gleichberechtigung. Bekannt wurde Bolland bzw. Sphereland vom Niederländer Dionijs Burger, weil nach diesem Buch ein Film entstand.

Zu erwähnen sind das Planiverse von Alexander Keewatin Dewdney und die "Wunderwelt der vierten Dimension" des Mathematikers und Science-Fiction-Autors Rudy Rucker. Als direkte Fortsetzung mit einer Übertragung in die heutige Zeit ist die Geschichte Flatterland des Mathematikers Ian Stewart erwähnenswert. Sie erzählt aus der Perspektive der Ur-Ur-Enkelin des Rechtwinkligen, wie die Geschichte weiterging.

Neben den Mathematikern und Physikern beschäftigten sich auch die Psychologen mit Abbotts Erzählung. Paul Watzlawick empfahl in seinem 1976 geschriebenen Buch "Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen" gar, eine moderne Übersetzung von "Flächenland" anzufertigen und sie zur Pflichtlektüre an allen Schulen zu machen:

Er schreibt:
"'Flachland' stellt die Relativität der Wirklichkeit schlechthin dar, und aus diesem Grunde möchte man wünschen, dass das Buch von jungen Menschen gelesen werde. Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass es kaum eine mörderische, despotische Idee gibt als den Wahn einer 'wirklichen' Wirklichkeit (womit natürlich die eigene Sicht gemeint ist), mit all den schrecklichen Folgen, die sich aus dieser wahnhaften Grundannahme dann streng logisch ableiten lassen. Die Fähigkeit, mit relativen Wahrheiten zu leben, mit Fragen, auf die es keine Antworten gibt, mit dem Wissen, nichts zu wissen, und mit den paradoxen Ungewissheiten der Existenz, dürfte dagegen das Wesen menschlicher Reife und der daraus folgenden Toleranz für andere sein. Wo diese Fähigkeit fehlt, werden wir, ohne es zu wissen, uns selbst in der Welt des Großinquisitors ausliefern und das Leben von Schafen leben, dumpf und verantwortungslos und nur gelegentlich durch den beißenden Rauch eines prächtigen Autodafés oder der Schlote von Lagerkrematorien unseres Atems beraubt."

Doch damit ist die Geschichte der vierten Dimension noch längst nicht zu Ende erzählt...

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(mawi)