Spinnenseide soll Nerven- und Muskelheilung beschleunigen

Künstliche Fasern aus Spinnenseidenprotein mit zwei unterschiedlichen Seiten könnten Zellen anziehen, versorgen und so Gewebe schneller regenerieren lassen.

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Die Eigenschaften von natürlicher Spinnenseide macht sich die Forschung zu Nutze.

(Bild: Torbjørn Helgesen / Unsplash)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Biotechnologisch nachgebaute Spinnenseide ist ein begehrter Materialkandidat in der Gewebe-Regeneration. Ähnlich wie das Naturprotein ist die Laborversion extrem fest, körperverträglich und vor allem mikrobenabweisend. Das macht sie zu einem geeigneten Gerüstmaterial, auf dem zum Beispiel aus Herz- Bindegewebs- und Blutgefäßzellen größere Ersatzstücke heranwachsen sollen.

Jetzt wollen Bayreuther Forscher um Thomas Scheibel, dessen "Fiberlab" die biotechnologische Herstellung entwickelt hat, mit dem Spinnenseiden-Stützmedium auch beschädigte Nerven und Muskeln schneller nachwachsen lassen.

In bisherigen Versuchen mit Natur-Spinnenseide dauert dieser Vorgang oft noch sehr lange und muss kompliziert vorbereitet werden. "Nach der Verletzung eines Nervs finden die abgetrennten Nervenstümpfe nicht zusammen, wenn der Abstand zwischen ihnen zu groß ist", erklärt Scheibel. Deshalb setzt man röhrenförmige Nervenleitstrukturen ein, in denen neue Nervenzellen aufeinander zuwachsen. Oft dient eine entzellularisierte Vene als Röhre, in deren übrig gebliebenes Gerüst die Spinnenseidenfasern hineingezogen werden.

Die Röhre wird dann an beiden Enden mit den offenen Nervenstümpfen verbunden. Sobald sich die entlang der Fasern aufeinander zuwachsenden Zellen treffen, kann wieder eine Nervenleitung erfolgen. "Wenn man die Fasern jetzt schon, bevor sie in die Röhre gebracht werden, mit den Nervenzellen bestückt, dann wird das Zusammenwachsen beschleunigt", sagt Scheibel.

Damit sich die Oberfläche zum Ansiedeln eignet und die Fasern die Zellen anschließend auch versorgen kann, stellte Scheibels Team sogenannte Janus-Fasern mit zwei unterschiedlich funktionalisierten Seiten her. Wie die Forscher im frei zugänglichen Fachjournal Angewandte Chemie schreiben, entwickelten sie dafür das bisherige Elektrospinning-Verfahren so weiter, dass es das Seite-an-Seite-Verspinnen von zwei Spinnenproteinfasern erlaubt. Der Name spielt auf den römischen Gott des Anfangs und des Endes an, der mit zwei Gesichtern sowohl nach vorne als auch nach hinten schauen konnte und Namensgeber für den ersten Monat Januar war.

Eine Seite der resultierenden Janus-Faser besteht nun aus einem Protein, in dem das Team durch Austausch einer Aminosäure die ursprüngliche Eigenladung des Moleküls umkehrte. "Die Materialoberfläche wird dadurch attraktiver für Zellen", erklärt Scheibel.

Die andere Seite besteht aus einem Spinnenseidenprotein, an das die Forscher die Aminosäure Cystein angefügt hatten. Mit ihr lässt sich "Klickchemie" betreiben, also eine chemische Methode zur Materialfunktionalisierung, bei der die Reaktionspartner so einfach miteinander reagieren, als ob man sie nur anklicken müsste.

Mithilfe der Klickchemie möchten die Forscher auch Wachstumsfaktoren anbringen, um nicht nur das Anwachsen von Nervenzellen auf der Spinnenseide, sondern auch deren gezieltes und schnelleres Wachstum entlang dieser Schiene zu ermöglichen. Nervenfasern bestehen nämlich nicht nur aus neuronalen Zellen, sondern auch aus anderen Zelltypen. "Ein zukünftiges Ziel ist daher, Stammzellen einzusetzen, die sich entsprechend ihrer Aufgaben differenzieren können. Dafür benötigen sie Botenstoffe, und die könnte man an der zweiten Seite der Fasern positionieren", so Scheibel.

Janus-Fasern könnten die Regeneration von Nervenzellen – und auch von Muskelzellen – auf eine weitere Weise unterstützen, wie die Forscher ebenfalls gezeigt haben. Sie belegten die Cystein-Seite der Faser per Klickchemie mit Gold-Nanopartikeln, um diese Seite leitfähig zu machen. Damit ließe sich später sowohl die Adhäsion als auch das Wachstum von Nerven- und Muskelzellen elektrisch stimulieren. Im Fall von Muskelzellen geschähe das zunächst außerhalb des Körpers, bis das Ersatzgewebe ausreichend groß ist, um implantiert zu werden. "Im Körper werden die Muskeln dann ganz von alleine innerviert, dort wird der Stromfluss nicht mehr benötigt", sagt Scheibel.

Noch sind diese Experimente Zukunftmusik. Aber Janus-Fasern öffneten "die Tür zu einer neuen Klasse multifunktionaler Nano- und Mikromaterialien", schreiben die Forscher. Sie bedienen zudem den wachsenden Bedarf für "biogene und biokompatible Janus-Materialien und erweitern das bisherige Potenzial von kleineren Janus-Partikeln, die mit ihrem großen Oberfläche-Volumen-Verhältnis vor allem für Anwendungen in der Biomedizin und bei der photochemischen Wasserspaltung interessant sind."

Die neuartigen Fasern stellen darüber hinaus eine spannende Weiterentwicklung der biotechnologisch hergestellten Spinnenseidenfasern dar. Das erste Verfahren stellte Thomas Scheibel 2004 an der TU München vor. Er ließ Kolibakterien per eingeschleusten Spinnengenen naturgetreue Spinnenseidenproteine produzieren. Diese konnten nach ihrer Isolierung aus den Fermentationstanks gefriergetrocknet aufbewahrt werden und ließen später bei Bedarf in speziellen Chemikalien lösen und per Elektrospinning zu Fäden spinnen.

Bei diesem Verfahren zieht man aus einer Lösung Faserenden in einem elektrischen Feld so stark, dass sie ultradünn werden, aber hochstabil bleiben. "Ziehen spielt bei vielen Fasern eine entscheidende Rolle, zum Beispiel bei Nylon, und auch bei Spinnenseide", so Scheibel. Schon damals, Mitte der 2000-er Jahre, war sein biotechnisches Verfahren geeignet, den Naturstoff kilogrammweise und damit in einer für industrielle Produkte relevanter Menge zu produzieren.

2008 gründete Scheibel das Start-up Amsilk aus, das nach einer zweistelligen Millionen-Investition der Brüder Andreas und Thomas Strüngmann, den Gründern des Pharmaunternehmens Hexal, in die großindustrielle Produktion einsteigen konnte. Es entwickelt Produkte etwa für die Biomedizin, die Kosmetikindustrie, aber auch Hochleistungsgarn für Laufschuhe und Textilien.

(jle)