Analyse "European Chips Act": So könnte die heimische Halbleiterbranche wachsen

Die EU-Kommission will den europäischen Anteil am Halbleitermarkt bis 2030 verdoppeln. Fördermittel allein reichen allerdings nicht, um das Ziel zu erreichen.

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(Bild: Macro photo/Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Aufgerüttelt vom Chipmangel, der die europäische Industrie seit 2020 plagt, will die EU-Kommission die europäische Halbleiterbranche stärken. Eine der geplanten Maßnahmen hat besondere Strahlkraft: der European Chips Act. Er soll dazu beitragen, bis 2030 mindestens 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion nach Europa zu verlagern.

Vorbild ist der US-amerikanische "CHIPS Act", den Präsident Joe Biden mit 52 Milliarden US-Dollar ausgestattet hat. Der auf Deutsch "Chip-Gesetz für Europa" genannte Entwurf von EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton sieht mit 48 Milliarden Euro eine ähnliche Summe vor.

Wichtiger als die Geldmenge sind Änderungen am europäischen Subventionsrecht, die ausnahmsweise für Chipprojekte gelten. Damit soll es möglich werden, die gesamten Kosten besonders wichtiger Projekte mit Fördermitteln zu zahlen. Das ruft normalerweise Wettbewerbshüter auf den Plan.

Unter anderem erwartet die EU, Halbleiterauftragsfertiger wie den taiwanischen Marktführer TSMC oder Intels neue Sparte Intel Foundry Service (ISF) anzulocken. Der EU Chips Act soll die Ansiedelung von Chipfertigungswerken (Fabs) für feinste Strukturen von 2 Nanometern und darunter bringen. Solche will beispielsweise TSMC ab etwa 2024 produzieren.

Infineon fertigt in Chipwerken in Dresden und Villach Leistungshalbleiter auf Dünnwafern mit 300 Millimetern Durchmesser. Die Siliziumscheiben biegen sich tatsächlich unter ihrem eigenen Gewicht.

(Bild: Infineon)

Bisher mangelt es in der EU allerdings an Firmen, die einerseits teure High-End-Chips mit der fortschrittlichsten Fertigungstechnik entwickeln sowie andererseits damit bestückte Geräte produzieren. Folglich gibt es für die modernsten und teuersten Chips in der EU gar nicht genügend Abnehmer, diese sitzen vielmehr in Asien und den USA.

Wenn es nicht gelingt, in den nächsten Jahren mehr Entwickler und "Verbraucher" der modernsten Chips in der EU anzusiedeln, müssten die in der EU subventionierten Fertigungsfirmen einen großen Teil ihrer Produktion exportieren. Doch der Halbleitermarkt ist extrem preissensibel, die meisten Chips sind billig.

Chipfertigung in der EU, nämlich in Itzehoe: Dort kooperieren Vishay Siliconix und X-Fab mit dem Fraunhofer Institut für Siliziumtechnologie. Nun entsteht für 260 Millionen Euro ein neues Werk für MOSFET-Leistungstransistoren, etwa für (E-)Autos.

(Bild: Fraunhofer ISIT)

Branchenverbände wie Bitkom und ZVEI sowie Thinktanks wie die Stiftung Neue Verantwortung bezweifeln, dass Gerätehersteller Chips in der EU kaufen, wenn sie anderswo billiger sind. Die Branchenexperten warnen vor einer Fehlsteuerung von Investitionen. Sie raten dazu, einerseits die Vernetzung mit internationalen Partnern gezielt zu stärken, insbesondere die komplizierte und daher verletzliche Lieferkette für Vorprodukte. Andererseits solle man auch die Entwicklung der modernsten und aufwendigsten Chips in der EU fördern. Die European Processor Initiative (EPI), die Prozessoren unter anderem für Supercomputer und autonome Autos entwickelt, ist ein solches Projekt.

Andere Kritiker befürchten ein Subventionswettrüsten. China, Südkorea und Taiwan pumpen seit Jahren viel Geld in ihre Chiphersteller und auch die USA sowie Japan wollen wieder stärker werden. Der EU spielt in die Karten, dass China bei der Stärkung der heimischen Chipbranche langsamer vorankommt als erhofft. Zudem sitzen viele wichtige Zulieferer für Chipfabs in der EU, darunter der niederländische Hersteller von Lithografiesystemen ASML und deutsche Firmen wie Jenoptik, Zeiss (Optik), Trumpf (Laser) und Siltronic (Wafer).

Ein wichtiges Argument der EU für mehr lokale Chipfertigung ist neben der Sicherung der Versorgung die digitale Souveränität: weniger Abhängigkeit von ausländischen Zulieferern bei essenziellen Chips für kritische Infrastruktur, Rüstung und wichtige Industriesparten.

Der bisher größte Anteil der in Europa eingekauften Chips steckt in Autos, laut ZVEI rund 37 Prozent. Autos brauchen vor allem Sensoren, Leistungselektronik und Mikrocontroller – und das sind nicht zufällig genau jene Produkte, die die größten europäischen Chiphersteller Infineon und STMicroelectronics sowie etwa Bosch, NXP und X-Fab hier fertigen. Künftige Autos werden aber immer stärkere Prozessoren und Rechenbeschleuniger enthalten, etwa um Kamerabilder für autonome Fahrfunktionen auszuwerten.

Weil aus der EU bisher nur etwa 9 Prozent der weltweit hergestellten Chips kommen und der Weltmarkt stark wächst, ist das Ziel der EU für 2030 hoch gesteckt: Um dann 20 Prozent der Produktion liefern zu können, muss die europäische Fertigung in den kommenden acht Jahren auf das Vierfache ihrer heutigen Größe wachsen, schätzen Experten. Dazu sind nicht nur gewaltige Investitionen nötig, sondern auch genügend Industrieflächen, ausreichende Versorgung mit Vorprodukten und Energie, flotte Genehmigungsverfahren und Abertausende Fachkräfte.

EU-Staaten fördern die lokale Halbleiterbranche schon seit Jahrzehnten; ein erfolgreiches Beispiel ist "Silicon Saxony", für das in den 1990er-Jahren große Summen flossen. Heute stehen rund um Dresden große Chipwerke von Globalfoundries, Infineon und Bosch und es haben sich zahlreiche Zulieferer angesiedelt.

Alleine in Deutschland flossen von 2010 bis 2020 insgesamt knapp 1,5 Milliarden Euro Fördermittel für die Mikroelektronik. Der Bau der 2021 eröffneten 300-Millimeter-Fab von Bosch in Dresden wurde mit rund 140 Millionen Euro im Rahmen des "Important Projects of Common European Interest Microelectronics" (IPCEI ME) gefördert. 2020 vereinbarten 17 EU-Staaten ein zweites Mikroelektronik-IPCEI, für das 2021 Projektanträge gestellt werden konnten. Über die Vergabe wurde bisher noch nicht entschieden – es ist die Rede von insgesamt über 140 Milliarden Euro, die vergeben werden könnten.

Der EU Chips Act schlüsselt nicht genau auf, ob es bei den erwähnten 48 Milliarden Euro nun um zusätzliches Geld geht oder ob es Überschneidungen gibt. Der Chips Act ist auch noch nicht verabschiedet, er braucht noch den Segen des EU-Parlaments sowie der Regierungen der EU-Länder.

Die europäischen Chiphersteller loben den EU Chips Act, drängen aber vor allem auf höheres Tempo bei der Genehmigung von Vorhaben. Dabei geht es nicht nur um Fördermittel, sondern auch um eine schnellere bürokratische Abwicklung etwa von Bauanträgen.

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(ciw)