Zahlen, bitte! Vom scheinbaren Kontakt mit der vierten Dimension

4D, die zweite: Wie ein Hochstapler mit Geschick und Dreistigkeit vorgab, Kontakt zur vierten Dimension zu haben und selbst hochrangige Wissenschaftler narrte.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Zum TwoDay 22.2.22 beschäftigte sich das Zahlen, bitte! mit dem zweidimensionalen Leben und dem Traum von der vierten Dimension. Da liegt es nahe, am 1.3. den scheinbaren Kontakt zu Lebewesen der vierten Dimension näher zu beleuchten.

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Vor 145 Jahren erschütterte ein Prozess die Londoner Gesellschaft: verhandelt wurde gegen den US-amerikanischen Hochstapler Henry Slade, der in spiritistischen Sitzungen mit betuchten Klienten sein gutes Geld verdiente. Slade stand angeblich im Kontakt mit Verstorbenen, aber auch mit zukünftig Lebenden und den Wesen einer vierten Dimension. Zu seiner Verteidigung traten mehrere renommierte Wissenschaftler auf. Sie erklärten, dass Slade kein Betrüger sei, sondern mit Wesen in Kontakt stehe, die tatsächlich in der vierten Dimension leben.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Der herausragende Zeuge war der Leipziger Physiker und Astronom Karl Friedrich Zöllner. Er habe eine Reihe von wissenschaftlichen Experimenten mit Slade durchgeführt, die das beweisen würden, versicherte Zöllner. Zöllners Eingabe war erfolglos und Slade wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, aber seine Beweise beschäftigen Physiker und Zauberkünstler bis heute.

Neben dem Astrophysiker Zöllner traten weitere Wissenschaftler als Fürsprecher für Slade auf, etwa William Crookes, der Erfinder der Kathodenstrahlröhre oder Joseph John Thompson, der für die Entdeckung des Elektrons 1906 den Nobelpreis erhielt. All diese Männer waren davon überzeugt, dass Henry Slade in seinen spiritistischen Séancen, bei denen er Lichter sah und seltsame Worte sprach, in Kontakt mit Wesen aus der vierten Dimension stand.

Henry Slade (* 1836 in den USA; † 1905 in Belding, Michigan, USA)
ein Hochstapler, der es sogar schaffte viele rennomierte Wissenschaftler mit seinen Esoterik-Tricks hinters Licht zu führen.

(Bild: gezeichnet und veröffentlicht 1897 bei Laird & Lee in Chicago)

Slade war für sie ein Medium für den Kontakt mit dieser Dimension, an deren Existenz sie nicht zweifelten. Clair-Voyance-Sitzungen dieser Art waren in den 70er und 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts ungemein beliebt, nicht nur beim Kontakt mit der vierten Dimension, sondern auch mit Verstorbenen oder mit Marsmenschen, den Slades Konkurrentin Hélène Smith offerierte.

Dass es eine solche vierte Dimension gibt, hatte der Mathematiker Bernhard Riemann mit Überlegungen zu gekrümmten Räumen aufgezeigt, in denen die Grundsätze der euklidischen Geometrie (z. B. Winkelsumme in einem Dreieck ist 180 Grad) nicht mehr gelten. Seine Geometrie mit dem Riemannschen Krümmungstensor konnte n-dimensionale Räume erfassen. Herausragende Wissenschaftler wie Zöllner und Hermann von Helmholtz, der einflussreichste Physiker seiner Zeit, versuchten, die Erkenntnisse von Riemann verständlich zu machen.

Helmholtz, der erste Präsident der Berliner Physikalisch-technischen Bundesanstalt, arbeitete mit vereinfachten Beispielen und erklärte in seinen Vorträgen wie beispielsweise in "Die Tatsachen in der Wahrnehmung" von 1879 das grundlegende Problem mit einem Rückgriff: Was passiert mit einem Bewohner einer zweidimensionalen Welt, der sich nur auf einer Oberfläche hin und her bewegen, aber niemals in die dritte Dimension, nach oben oder unten aussteigen kann?

Zeichnet man einen Kreis um solch ein Wesen, steckt es im Gefängnis, denn es kann sich ja nicht in die dritte Dimension bewegen und über die Linie hüpfen. Ähnlich ist es mit der vierten Dimension: Für ein Wesen, dass sich in dieser Dimension bewegen kann, gibt es keine Gefängnisse. Ein anderes Gedankenbeispiel: Wer vierdimensional lebt, könnte sich in dieser Dimension umdrehen und wieder in der dritten auftauchen. Alle inneren Organe wären dann gespiegelt und das Herz würde rechts schlagen.

Helmholtz beließ es freilich bei dieser Analogie, die Edwin Abbott Abbott 1884 bei seiner Satire vom Flächenland inspirierte. Allen Ansätzen, sich ein Leben in der vierten Dimension vorstellen zu können, erteilte er eine Absage: Wir Menschen können das nicht. Mehr noch, er warnte ausdrücklich vor den "Prestidigitateuren" (Schnellfingern), die mit Hokuspokus den Kontakt zu dieser Dimension herstellen können und warnte vor der Übersetzung einer Geometrie mit n-Dimensionen in eine Physik mit n-Dimensionen: "Die Geometrie, als strikt mathematische Wissenschaft, gibt nur die Begriffe für das, was in physikalischen Räumen gemessen werden kann, sagt aber nichts über die 'Natur' dieser Räume 'selbst. Kants Beweis für die transzendentale Natur der geometrischen Axiome ist also hinfällig", so Helmholtz in seinem erwähnten Vortrag über die Wahrnehmung. Erst mit der Allgemeinen Relativitätstheorie von 1916 konnte Einstein unter Rückgriff auf Riemann mit der Raum-Zeit-Krümmung die vierte Dimension erklären, mithilfe zahlloser Fortschritte in den Messungen der Physiker wie Maxwell und Hertz.

Anders als Helmholtz, der Vertreter der Berliner Physik, war Karl Friedrich Zöllner als Vertreter der Leipziger Physik davon überzeugt, mit Experimenten die vierte Dimension beweisen zu können. Er verglich den Einstieg in die vierte Dimension mit dem Aufstieg eines Ballonfahrers, der sich aus der Ebene löst, einen größeren Horizont hat und so die Ankunft eines Zuges bereits sehen kann, von dem die erdbehafteten Wesen noch nichts wissen.

Ausgehend von Riemanns Hypothese, dass der Weltraum von einem Stoff erfüllt sei, welcher in die Atome strömt und von dort aus der Erinnerungswelt verschwindet, schreibt Zöllner:
"Dass die vorstehende Hypothese als erstes und wesentliches Moment notwendig einer Erweiterung unserer dreidimensionalen zu einer einer vierdimensionalen Raumanschauung in sich schließt, hat Riemann klar erkannt. /../ Für all diejenigen, die sich mit den Tatsachen des Spiritismus und des animalischen Magnetismus hinreichend vertraut sind, wird der Zusammenhang der Riemannschen Hypothesen mit dieser Klasse von Naturphänomenen aufs deutlichste ins Auge springen." Sein Beweismittel war eben jener Henry Slade, ein Hermaphrodit, der durch Europa tingelte und viel Geld mit spiritistischen Sitzungen verdiente, in denen er scheinbar den Kontakt mit der vierten Dimension herstellte. Zöllner holte ihn nach Leipzig.

Zahlen, bitte! Zöllners 4D-Versuche (5 Bilder)

Zöllners erster Versuch: Ein versiegeltes Band, von ihm festgehalten und baumelt unter einem Tisch. Nach der Séance sind vier Knoten drin.

Zöllners Experimente waren so angelegt, dass die Existenz einer vierten Dimension bewiesen werden kann. Der US-amerikanische Physiker Michio Kaku lobt sie in seinem Buch "Die Physik der unsichtbaren Dimensionen" als "schlüssig und bemerkenswert". Zöllner ließ etwa zwei Holzringe aus Eichen- und aus Erlenholz drechseln, die ein Wesen in der vierten Dimension in einer Sitzung ineinander verketten sollte. Ein Mikroskop stand bereit, um die Holzfasern zu untersuchen, doch das Experiment misslang, die Ringe lagen weiter nebeneinander. Zöllner versiegelte eine Schnur, die an einem Tisch baumelte und von ihm mit Händen festgehalten wurde. Im Beisein von Slade baumelte die Schnur unter dem Tisch -- und enthielt nach kurzer Zeit vier Knoten. Dann aber passierte die wohl spektakulärste Sitzung: In einem weiteren Experiment hingen die Ringe in einer versiegelten Darmschlinge von einem Tisch.

Nachdem sich alle Beteiligten in der Séance auf die vierte Dimension konzentrierten und Henry Slade viele Lichter gesehen hatte, roch es brenzlig und man hörte ein hölzernes Klackern. Die Holzringe steckten in einem Tischfuß, doch der Tierdarm war unbeschädigt. Auf einer Schiefertafel, die bei der Séance unter dem Tisch gehalten wurde, standen die Worte "Now is the 4th dimension proven? We are not working with the slate pensil -- or on the slate as our powerss are now in other directions."
Auf diese Worte folgten eine Reihe geheimnisvoller Zeichen, die an die Schrift der Marsmenschen von Hélène Smith erinnerten. Für Zöllner war der Beweis der vierten Dimension erbracht.

Heute weiß man, dass Henry Slade nicht nur ein begnadeter Hypnotiseur war, sondern mit beiden Füßen schreiben konnte. Außerdem wurde er mehrmals dabei erwischt, blitzschnell die Schiefertafel mit einer zweiten beschriebenen Schiefertafel ausgetauscht zu haben. Seine Knotentricks wurden Jahre 1907 von Hereward Carrington enttarnt. Für Karl Friedrich Zöllner wurde es zum Problem, dass keiner seiner Beweise wiederholt werden konnte. Denn das fürstlich bezahlte Medium Henry Slade stand ihm nicht mehr zur Verfügung.

Als Slade in London eine weitere Verhaftung drohte, konnte er in die USA fliehen und mied fortan Europa. Zöllner verteidigte bis zu seinem Tod im Jahre 1882 seine Vorstellung von der vierten Dimension und schreckte dabei auch nicht vor übelsten antisemitischen Beschimpfungen zurück.

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(mawi)