Web3: Im vollen Galopp vor die Wand – ein Kommentar

Über Halbwahrheiten, Widersprüche, logische Fehlschlüsse und andere Absurditäten: Ein Kommentar zu den großen Versprechen der Web3-Community.

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(Bild: file404/Shutterstock.com / Bearbeitung: heise online)

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Von
  • tante
Inhaltsverzeichnis

Ein Gish-Galopp ist eine Art zu argumentieren, bei der versucht wird, das Gegenüber unter einer Lawine aus Halbwahrheiten, Widersprüchen, logischen Fehlschlüssen und anderen Absurditäten zu begraben. Dieser Debattenstil wurde nach dem 2013 verstorbenen Kreationisten Duane T. Gish benannt, der ihn wie kein Zweiter beherrscht hatte – bis heute. Denn wann immer man sich mit den großen Versprechen der Web3-Community beschäftigt, merkt man, dass Herr Gish heute seine Meister gefunden hätte.

Dabei benennt die Community diverse Probleme im aktuellen Internet absolut treffend: Wir sehen eine massive Tendenz hin zu Monopolen. Wir sehen, dass die Macht einzelner Unternehmen im Digitalen keine Grenzen mehr zu kennen scheint. Wir sehen, dass bestimmte oft repressive Staaten unerwünschte Meinungen im Internet filtern. Wir sehen diverse Probleme, das Web hat sich nicht in allem zum Besseren entwickelt.

Bühne frei für die Web3-Evangelisten und -Evangelistinnen: "Dezentralisierung" rufen sie, "transparente Smart Contracts" und "Zensurresistenz durch Blockchains". Und irgendwie soll auch der Kauf von Besitzzertifikaten für seelenzerstörend hässliche Affenbilder die Freiheit ins Netz zurückbringen. Da ist es ein geringer Preis, dass die für das Web3 zentrale Ethereum-Blockchain, die in ihrer Gesamtheit in etwa 0,02 Prozent der Leistungsfähigkeit eines Raspberry Pi 4 erbringt, in etwa so viel Strom verbraucht wie die Niederlande.

Ungefähr jetzt dürfte bei einigen Leserinnen und Leser ein gewisser Schwindel einsetzen. Wie bitte? Wie viel Strom für was und warum? Wir wollen doch nur ein paar Websites hosten? Aber wir sind mitten im Gish-Galopp. Denn kaum hat man auf den Energieverbrauch verwiesen, kommt der nächste Schwall aus diffusen, oft inkonsistenten Fachbegriffen und Links auf irgendwelche Projekte, die zwar keinen Code, aber ein Whitepaper haben, das behauptet, dass sowohl die Energie- als auch die Performance-Probleme bald™ gelöst sind. Alles ist immer bald, spätestens nächstes Jahr, gelöst. Aber selbst wenn das stimmte, zerstören die Basistechnologien des Web3 diesen Planeten jetzt.

Aus Sicht einer Person, die seit 20 Jahren Websites baut, ergeben die Architektur, die Komplexität und vor allem die heftigen Einschränkungen, die das Web3 seinen Entwicklerinnen und Entwicklern auferlegt, keinen Sinn. Bis man merkt, dass es gar nicht darum ging, echte Probleme zu lösen. Denn die Lösung stand schon fest: Blockchain.

Seit Jahren versucht die Blockchain-Community endlich Einsatzszenarien für ihre etwas skurrile, mehr als 10 Jahre alte, Datenbanktechnologie zu finden. Leider scheint sie, wenn man libertäre Traumwelten verlässt und sich der realen Welt zuwendet, nicht so wirklich geeignet zu sein, um reale Probleme zu lösen – oder wie der Experte Peter Alexander von der australischen Digital Transformation Agency in einem Gutachten für die australische Regierung schrieb: "for every use of blockchain you would consider today, there is a better technology – alternate databases, secure connections, standardised API engagement". Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass wir in unseren sozialen und ökonomischen Systemen nur sehr ungern auf eine "Undo" Funktion verzichten.

Aber wenn man nur einen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus und so wird, dem Werkzeug Blockchain entsprechend, jede Interaktion im Netz umgeformt in die Erzeugung von, den Handel mit oder die Vermietung von digitalen Wertmarken. Du willst einen Kommentar unter einen Blogpost schreiben? Minte den Inhalt als NFT auf einer Blockchain, die hundert Euro ist dir das "Erster" sicher wert, oder?

Gefangen in der Zwangsjacke des Werkzeugs Blockchain, wirft die Web3 Bewegung nebenbei die utopischen Visionen des Webs über Bord. Ging es nicht mal um die Ermöglichung des freien Austauschs von Wissen? Darum, allen Menschen möglichst niedrigschwellig Zugang zu verschaffen zu Kultur, Wissen und Unterhaltung? War nicht die Idee, dass wir Inhalte ohne große Kosten vervielfältigen können, der Grundstein für konkret existierende digitale Weltwunder wie die Wikipedia?

Der Ansatz der Web3-Community, alles als digitales Eigentum, als Handelsware zu denken, ist nicht nur reduktionistisch, es ist ein Angriff auf das Internet, wie wir es kennen. Ein reaktionärer Backlash gegen die Essenz des digitalen und der konkret existierenden neuen Formen von Kollaboration und Allmende.