Zahlen, bitte! 110 & 112 – die Notrufnummern für eine schnelle Rettung

110/112 stehen bundesweit für schnelle Notfallhilfe. Deren Bestehen ist der Björn Steiger Stiftung zu verdanken. Die Gründung hat einen tragischen Hintergrund.

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Inhaltsverzeichnis

Die Björn-Steiger-Stiftung ist seit nunmehr über 50 Jahren unabhängiger Helfer, Initiator und auch hartnäckiger Impulsgeber gegenüber der Politik, die Strukturen im Rettungswesen zu verbessern. Innerhalb weniger Wochen starben mit Ute und Siegfried Steiger die beiden Gründungsmitglieder dieser Initiative. Ihr entschlossenes Bemühen, die Notfallhilfe auf vielen Ebenen zu verbessern, hat dazu beigetragen, unzählige Menschenleben zu retten. Um Ute und Siegfried Steiger zu ehren und an sie zu erinnern, haben wir uns entschieden, das Zahlen, bitte! zum Thema 110/112 aus dem Jahr 2019 zu überarbeiten und als Zahlen, bitte! Classic erneut zu veröffentlichen.

Ein schrilles Piepen holt mich morgens, kurz nach sieben, aus meinen Träumen. Ich schrecke auf und denke: "Das ist nicht der Wecker!". Ein Blick auf das LCD-Display des Funkmeldeempfängers verrät: Verkehrsunfall mit mehreren Insassen. Als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr bedeutet es: Schnell anziehen und ab zum Feuerwehrhaus.

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Zu diesem Zeitpunkt haben bereits mehrere Kommunikationssysteme ineinander gegriffen; sie reichen vom Anruf in die Zentrale durch den Telefon-Notruf 112 bis zur Alarmierung der entsprechenden Einsatzkräfte durch die Einsatzleitstelle über den BOS-Funk. BOS ist ein Akronym für 'Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben' und steht für die staatlichen Strukturen in der Gefahrenabwehr. Und über die Einsatzleitstelle wird die Alarmierung und Koordinierung der verschiedenen Einsatzkräfte durchgeführt. Sie geben das Alarmsignal an den Funkmeldeempfänger, der mich aus dem Schlaf holte.

Im Jahr 1969 war eine solch effektive, bundesweit einheitliche Alarmierung noch undenkbar. Zwar war das Schema 110 für Polizei und 112 für Feuerwehr/Rettungsdienst seit mindestens 1948 bekannt und seit 1955 auch in einigen Großstädten geschaltet, aber es konkurrierte mit anderen Rufnummern wie 22222 und ähnlichem. Dies führte dazu, dass von Bezirk zu Bezirk verschiedene Nummern gelten konnten. In der DDR sah es besser aus: Da galten die Nummern seit 1958 landesweit.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Wie die Vergabe der Notrufnummern war damals auch das Rettungswesen bundesweit ein Flickenteppich. Die Errichtung eines Rettungssystems oblag den Ländern, die es auf verschiedene Rettungsdienste ohne jede Regelung delegierten. Anstatt miteinander wurde oftmals nebeneinander gearbeitet. Das führte zu paradoxen Auswirkungen: Wer in einer Großstadt tagsüber verunglückte, konnte durchaus erleben, dass er von zwei konkurrierenden Rettungsdiensten behandelt werden wollte, die über die Zuständigkeit in einen Konflikt gerieten.

Verunglückte man in einer Kleinstadt, auf dem Land oder nachts, konnte es wiederum dauern, bis ein Krankenwagen vor Ort war. Zudem waren die Standards in Notrufkette, Ausrüstung und Ausbildung sehr unterschiedlich. Schlimmstenfalls musste sich ein Helfer, der gerade einmal eine Handvoll Übungsstunden hinter sich gebracht hatte, um schwerverletzte Unfallopfer kümmern.

Eine bundesweite Koordination oder gar gesetzliche Regelungen existierten nicht. Somit geriet eine angemessene Versorgung zum Glücksspiel und Tragödien wurden dadurch begünstigt.

Björn Steiger: Er wurde nicht einmal neun Jahre alt und starb an den Folgen eines Unfalls und einer zu langsamen Rettung.

(Bild: Björn Steiger Stiftung)

Björn Steiger war ein aufgeweckter und hilfsbereiter Junge; geboren wurde er am 10. Mai 1960. Am 3. Mai 1969 war er auf dem Heimweg vom Schwimmbad und wollte dabei die Straße überqueren. Es kam dabei zu einer Verkettung tragischer Umstände: Die Scheibe eines herannahenden VW-Käfer war verschmutzt, dann fing es auch noch an zu regnen. Da der Fahrer urplötzlich nichts mehr sah, schaltete er den Scheibenwischer ein und bremste – was Björn vermutlich als Anhalten interpretierte, das ihm galt: Er rannte los. Der Fahrer sah ihn zu spät: Der VW-Käfer überfuhr ihn.

Der Junge hatte lebensgefährliche Verletzungen und einen Schock. Während sein Vater und ein zufällig vorbeikommender Arzt ihn erstversorgten und beatmeten, wurde mehrere Male Hilfe angefordert. Ein Krankenwagen war erst nach einer knappen Stunde vor Ort und verfügte nicht über Sauerstoff.

Björn Steiger verstarb beim Transport ins Krankenhaus – eine Woche vor seinem neunten Geburtstag. Und er starb nicht an seinen Verletzungen, sondern am Schock. Wäre der Krankenwagen rechtzeitig vor Ort gewesen und hätte die richtige Ausrüstung an Bord gehabt, dann würde Björn Steiger womöglich heute noch leben.

Siegfried Steiger, Ute Steiger und Hilda Heinemann

(Bild: Björn Steiger Stiftung)

Für die Eltern Ute und Siegfried Steiger war es ein nur schwer zu ertragener Schicksalsschlag. Sie fassten noch in der Nacht des Trauertages einen Entschluss: Sie wollten alles dafür tun, dass solch eine Tragödie aufgrund einer unzureichenden Notfallhilfe vermieden wird. Die Steigers gründeten am 7. Juli 1969 die Björn Steiger Stiftung mit dem Ziel, eine bundesweit einheitliche Notfallhilfe einzurichten und zu unterstützen.

Unterstützung erhalten sie dabei auch von Hilda Heinemann, Frau des damals amtierenden Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Sie war vom Schicksal des kleinen Björn berührt und von dem Anliegen der Björn Steiger Stiftung überzeugt; Hilda Heinemann verschaffte dem Anliegen durch ihre Kontakte und Prominenz Gehör bei den zuständigen Ministerien.

Bereits am 7. November 1969 begann die Stiftung mit der Teilfinanzierung von Funkgeräten für Krankenwagen. Allein ein Funkgerät kostete so viel wie das Fahrzeug drumherum, deswegen waren Funkgeräte nicht verbreitet. Mit der Initiative der Stiftung wurde der Funksprechverkehr in Krankenfahrzeugen eingeführt.

Außerdem veröffentlichte Siegfried Steiger in einem offenen Brief an die Innenminister einen Forderungskatalog mit 15-Punkten, wie sich das Rettungswesen reformieren, vereinheitlichen und effektiver gestalten ließe. Damals noch weitgehend von den Innenministern ignoriert, die offenbar die verbundenen Kosten und Interessenkonflikte mit den Rettungsdiensten scheuten, definierte dieser Plan bereits umfassend die Grundzüge der modernen Notfallhilfe.

Das Logo der Björn Steiger Stiftung. Es symbolisiert Schutz, sowie durch seine Asymetrie Flexibilität. Die sieben Strahlen gehen zurück auf die Zahl 7, die Lieblingszahl der Familie Steiger.

(Bild: Björn Steiger Stiftung)

Und der Plan war dringend notwendig: Mit 21.332 getöteten Personen im Straßenverkehr bildete das Jahr 1970 den Höhepunkt der Unfallstatistik. Und Experten vermuteten, dass mindestens 10 % der Getöteten bei einer effektiven und schnellen Notfallhilfe hätten gerettet werden können.

Die Stiftung reagierte auf die Tatenlosigkeit der Politik, indem sie Fachgremien und -Ausschüsse entwickelte, die die Politik beratend unterstützen sollten. Auf die damalige Absurdität hinweisend, dass selbst das Absetzen eines Notrufs 20 Pfennige kostete, verteilte die Stiftung Notfall-Pappkarten mit 20 Pfennigen und brachte sie in Telefonzellen an. Obwohl die Post einen kostenfreien Notruf prinzipiell anbot, wurde die Maßnahme erst 14 Jahre später – im Jahr 1984 - beschlossen.

1971 begann die Björn-Steiger-Stiftung, Straßen und Autobahnen mit Notrufsäulen zu versorgen, nachdem sich staatliche Stellen bei der Finanzierung nach vereinzelten Tests zurückgezogen hatten. In Höchstzeiten waren 35.000 Kilometer Landes- und Bundesstraßen damit versorgt. Erst mit dem Aufkommen der Handys nahm die Anzahl der Notrufsäulen ab. 2016 wurden noch insgesamt 53.000 Notrufe über Notrufsäulen abgesetzt.

Die Weigerung der Politik, aus Kostengründen die 110/112 bundeseinheitlich einzuführen, durchbrach Siegfried Steiger mit einem Trick: Er verklagte das Land Baden-Württemberg sowie die Bundesrepublik auf unterlassene Hilfeleistung.

Zwar war es klar, dass die Klage keine Chance haben wird, jedoch sorgte das Verfahren für Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit; die Politik kam nicht mehr an der Initiative vorbei. Die Klage scheiterte erwartungsgemäß am 3. September 1973, aber bereits am 20. September wurde mit dem Konzept "Notruf 73" die bundeseinheitliche Einführung der beiden Nummern von den Länder-Ministerpräsidenten und dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt beschlossen.

Endlich war der Wildwuchs an Telefonnummern beseitigt; die Rettungsdienste waren ab da bundeseinheitlich und ohne Vorwahl erreichbar. Bundespostminister Prof. Dr. Horst Ehmke informierte Siegfried Steiger direkt nach der Sitzung mit den Worten: "Ihr Dickschädel hat sich durchgesetzt!".

Das Euronotruf 112 - Logo. Seit 2003 kann EU-weit mit der 112 ein Notruf abgesetzt werden.

Die Idee der einheitlichen Notrufnummer setzte sich europaweit durch: Seit 2003 ist die 112 europaweit geschaltet und gilt als Symbol des Zusammenwachsens der europäischen Staaten. 2006 startete die Stiftung mit LifeService 112 ein Ortungssystem, welches Handyortungen von Verunglückten erleichtern sollte. Die Bemühungen sind Ende 2016 eingestellt worden, da Änderungen am Telekommunikationsgesetz notwendig sind, die bisher nicht umgesetzt wurden.

Weitere Meilensteine, die durch die Stiftung erreicht wurden:

1971 Übergabe eines komplett ausgerüsteten Notarztwagens an die Stadt Stuttgart, mit der Maßgabe, dass dafür 24 Stunden am Tag ein Notarzt verfügbar sein solle. Das war der Startschuss für ein flächendeckendes Notarzt-System und gleichzeitig die Einführung des Rettungswagen-Konzepts mit einer besseren materiellen Versorgung und Betreuung durch geschultes Personal auch während der Fahrt.

1972 erfolgte die Einrichtung der zivilen Luftrettung als Deutsche Rettungsflugwacht e. V.

1974 entwickelte die Stiftung einen Babynotarztwagen (NAW), speziell ausgerichtet auf die Bedürfnisse von Säuglingen in Notlagen.

Der Anruf im Notfall: Das 3-W-Schema

Wo ist es passiert?

Geben Sie eine möglichst genaue Standortangabe, wo der Unfall passiert ist. Ort, Stadtteil, Straße, gegebenenfalls Hausnummer und Stockwerk. Je genauer die Angaben sind, umso besser finden die Rettungskräfte den Einsatzort.

Was ist passiert?

Beschreiben Sie kurz und prägnant, was passiert ist.

Warten auf Rückfragen!

Die weiteren notwendigen Informationen werden von der geschulten Leitstellenkraft gezielt abgefragt. Sie brauchen keine Angst haben – Sie können nichts falsch machen.

Es werden beispielsweise Fragen gestellt wie: Wie viele Personen sind verletzt? Welche Verletzungen sind erkennbar? Besteht Lebensgefahr? Das hilft der Einsatzleitstelle bei der Planung des Rettungseinsatzes.

Sie erhalten auch Hilfestellungen und Anleitungen in akuten Notlagen. Bitte erst auflegen, wenn die Leitstelle das Gespräch beendet.

Bis heute bringt die Stiftung stets Initiativen ein, um die Notfallrettung zu verbessern.
Aktuelle Beispiele sind die "Kampf dem Herztod"- Kampagne oder die Mobile-Retter-App fürs Smartphone, mit der sich gut ausgebildete Ersthelfer registrieren lassen können, um bei einem Notfall noch schneller Erste Hilfe leisten zu können.

Für diese Arbeit ist die Stiftung auf Spenden durch die Bevölkerung angewiesen.

Bei der anfangs erwähnten Alarmierung waren übrigens die Sanitäter bereits innerhalb weniger Minuten vor Ort; kurz darauf traf unsere Feuerwehr ein. Glücklicherweise verlief der Unfall verhältnismäßig glimpflich ab: Zwar hatte sich das Fahrzeug überschlagen, aber die Insassen konnten sich selbst befreien und die leichten Verletzungen wurden bereits versorgt, sodass die Feuerwehr beim Einsatz bald wieder einrücken konnte.

Ute Steiger (* 2. August 1933 in Rodewisch; † 28. Februar 2022 in Winnenden) und Siegfried Steiger (* 15. Dezember 1929 in Schönberg; † 17. März 2022 in Winnenden). Ihrer Initiative und ihrer Entschlossenheit ist es zu verdanken, dass schnell und effektiv im Notfall Hilfe vor Ort ist.

(Bild: Björn Steiger Stiftung)

Aber dass wir als Feuerwehr, und die Sanitäter sowohl schnell vor Ort, als auch standardmäßig für einen schwereren Unfall gerüstet waren, das ist ein maßgeblicher Verdienst der Björn Steiger Stiftung und der Hartnäckigkeit von Ute und Siegfried Steiger. Sie agierten stets mit dem Antrieb, eine Tragödie wie die ihres Sohnes für die Zukunft mit allen Mitteln zu verhindern. Auch dank dieser Maßnahmen konnte die Anzahl der Verkehrstoten auf Straßen und Autobahnen von über 21.000 im Jahr 1970 auf 2.569 im Jahr 2021 auf fast ein Zehntel reduziert werden, trotz eines massiv gestiegenen Verkehrsaufkommens. Das ist der niedrigste Wert seit 1950. Auch wenn jeder Tote einer zu viel ist, sind die Zahlen ermutigend.

Die heutige Notfallhilfe ist so engmaschig, dass ein solcher tragischer Fall, wie bei Björn Steiger, sehr unwahrscheinlich geworden ist. Somit lebt in jedem geretteten Menschen das Gedenken an Björn Steiger ein kleines bisschen weiter.

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(mawi)