Kommentar: Ist das Aufheben fast aller Corona-Einschränkungen eine gute Idee?

Am Sonntag ist es soweit – das neue Infektionsschutzgesetz beendet die meisten Corona-Maßnahmen während des Inzidenz-Allzeithochs.

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(Bild: 1take1shot/Shutterstock.com)

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Ist das Aufheben fast aller Corona-Einschränkungen eine gute Idee? Die Antwort auf die Frage ist eigentlich schnell gegeben: Nein, das ist eine schlechte Idee. Gewöhnung ist kein guter Ratgeber und Gewöhnung ist letztlich der Prozess, der hinter dieser politischen Entscheidung steht.

Wie sehr haben uns vor zwei Jahren Inzidenzen am Rande der 200er-Marke geängstigt? So sehr, dass sie uns in den ersten Lockdown getrieben haben. Nun, am 16. März 2022, vier Tage vor dem Fallenlassen nahezu sämtlicher Beschränkungen, haben wir ein Allzeithoch von 1651 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen. Am 16. März wurden 262.593 neue Fälle und 269 neue Tote gemeldet. Noch nie während der Pandemie haben sich so viele Menschen mit dem Virus angesteckt, noch nie war es so nah. Kolleginnen und Kollegen melden sich mit Corona krank, Freunde und Nachbarn verabschieden sich mit ihren gesamten Familien in die Quarantäne, ein Husten in der Supermarkt-Kassenschlange wird plötzlich zur unmittelbaren und nicht länger abstrakten Bedrohung. Und wir lassen die Schutzhüllen fallen.

Mehrere Gründe gibt es für diese Pandemie-Explosion. Der eine Grund ist die sehr leicht übertragbare Variante BA.2, die nun die Führung übernommen hat. Sie ist bei der Wahl ihrer Wirte sehr durchsetzungsstark und infiziert auch Geboosterte – die neuen vollständig Geimpften. Und Kinder, die bei den vorhergehenden Varianten meist symptomlos mit dem Virus fertig geworden sind, erkranken an Omikron. Damit sind sie wirkungsvolle Multiplikatoren, denn bereits zwei Tage nach der Infektion werden Virusträger bereits infektiös.

Der nächste Grund ist, dass wir uns an die Gefahr gewöhnt haben. Mit Bedrohungen ist es ein bisschen so, wie mit schlechten Gerüchen – sind sie ständig präsent, schalten unsere Rezeptoren auf Durchzug. Und bisher ist es ja auch tatsächlich für die meisten glimpflich verlaufen. In zwei Jahren Pandemie hatten bis auf Menschen, die professionell mit Kranken zu tun haben, nur Einzelne unmittelbaren Bezug zu COVID-Patienten. Das hat sich in den letzten Wochen geändert. Die Einschläge kommen näher.

Woran es liegt, dass auch diese Einschläge nicht mehr so einen Schrecken verbreiten, kann man nur vermuten. Da sind zum einen die Menschen, die ohnehin keine Sensorik für die Gefahren der Pandemie haben, sie verleugnen, sich nicht impfen lassen und über die schon viel zu viel geschrieben und gesprochen wurde. Zum anderen beruhigen uns die Impfstoffe und Medikamente, die extrem potente Mittel sind, um das Risiko für die Einzelnen zu reduzieren. Omikron ist zudem eine vergleichsweise freundliche Variante und durchgeimpfte (sprich: geboosterte) Menschen mit gut funktionierendem Immunsystem werden krank aber müssen eher selten ins Krankenhaus. Also wo ist das Problem? Masken abgerissen, Konzertsäle und Stadien geöffnet, die ganze Welt umarmt! Was kümmert uns ein kleiner Infekt?

Das Perfide an der Situation ist, dass wir trotz Impfung und Medikamenten in einer ähnlichen Situation sind wie am Anfang der Pandemie: Auch Menschen mit einem leichten fiebrigen Infekt befinden sich tagelang in Quarantäne – und wenn das hinreichend viele sind, brechen Infrastrukturen zusammen. Wenn viele Pflegekräfte und Ärzte infiziert sind, ist die Gesundheitsversorgung nicht mehr gesichert – auch wenn nur wenige COVID-Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation landen.

Niemand kann vorhersagen, wer nur einen fast symptomlosen kleinen Infekt oder tagelang hohes Fieber entwickelt, aber sicher ist: Ältere Menschen und Immungeschwächte sind wie zu Beginn der Pandemie besonders stark betroffen – die Infektionszahlen bei den über 60-Jährigen steigen, ebenso wie die Hospitalisierungsraten.

Und jeden Tag sterben Menschen. „200 Tote am Tag, jeden einzelnen Tag 200, sind für mich persönlich einfach viel zu viele, um das als harmlos oder irrelevant zu bezeichnen“, sagte Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, vor wenigen Tagen in der letzten Folge des Coronavirus-Updates. Das, denke ich, kann man einfach so stehen und wirken lassen.

Ein Kommentar von Jo Schilling

Jo Schilling ist TR-Redakteurin. Sie hat nie ganz aufgehört, Naturwissenschaftlerin zu sein und ist überzeugt, dass komplizierte Zusammenhänge meist nur kompliziert sind, weil noch die richtigen Worte für sie fehlen.

Und dann ist da natürlich das das dicke Ende, das inzwischen viele Experten erwarten, aber noch viel mehr Menschen verleugnen: Viele COVID-Erkrankte bedeuten auch viele Menschen, die teils monatelang unter dem Long- oder Post-COVID-Syndrom leiden werden.

Neben dem persönlichen Leid, das diese Menschen erfahren, werden sie monatelang als Arbeitskräfte ausfallen. Kleine Rechnung, um die Dimension des Problems zu verdeutlichen: 10 bis 15 Prozent der mit COVID-19 Infizierten bilden ein Long-COVID-Syndrom aus. Das sind bei derzeit etwa 17 Millionen Infektionen in Deutschland zwischen 1,7 und 2,55 Millionen Langzeitkranke, die allein aus der derzeitigen Infektionslage hervorgehen werden. Der einzige Schutz vor Long COVID ist, nicht an COVID-19 zu erkranken.

Hier lässt uns die Politik im Stich. Mit dem neuen Infektionsschutzgesetz überträgt die Regierung die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung auf die Einzelnen und nimmt ihre Verantwortung für die Gesellschaft, die sie schützen soll, nicht mehr wahr. Die Firmen rufen ihre Mitarbeitenden in die Zentralen zurück, die Kantinen öffnen, die Busse und Bahnen füllen sich und Omikron BA.2 wird die Infektionszahlen noch weiter hochtreiben. Vielleicht sollte man die ab Sonntag greifenden Fassung des Gesetzes von Infektionsschutz- in Infektionsgesetz umbenennen? Inhaltlich trifft es damit besser den Kern. Es stützt zudem die zunehmende Sorglosigkeit der Masse und macht für die Vorsichtigen ihren Selbstschutz zu einem unmöglichen Unterfangen.

(jsc)