Vollständig gelähmte Person kommuniziert per Gedankenkraft

Erstmals gelang es bei einem Mann mit Locked-in-Syndrom, ihn mit anderen Menschen in ganzen Sätzen sprechen zu lassen – per Hirnschnittstelle.

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(Bild: Nature)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Jessica Hamzelou
Inhaltsverzeichnis

Das Locked-in-Syndrom bedeutet, dass ein Mensch jegliche Möglichkeit verloren hat, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Deutschen Forschern ist es jetzt gelungen, diesen Zustand zu durchbrechen. "Es ist wirklich bemerkenswert, wenn man die Kommunikation mit einer Person wieder herstellen kann, die sich in einem völlig von anderen Menschen abgeschlossenen Zustand befindet", kommentiert Jaimie Henderson, Neurochirurg an der Universität Stanford. "Für mich ist das ein enormer Durchbruch und natürlich sehr bedeutsam für den Studienteilnehmer selbst."

Bei dem Betroffenen, der in Deutschland lebt, wurde im August 2015 im Alter von 30 Jahren Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert. ALS ist eine seltene, sich normalerweise verschlimmernde neurologische Erkrankung, die die an der Bewegung beteiligten Nervenzellen angreift. Noch im Jahr der Diagnose war der Mann nicht mehr in der Lage, zu sprechen oder zu gehen. Seit Juli 2016 ist er zum Atmen auf ein Beatmungsgerät angewiesen.

Seit August 2016 verwendet er ein sogenanntes Eye-Tracking-Gerät, um zu kommunizieren. Die Technik erkennt die Augenbewegungen und ermöglicht es Benutzern, Buchstaben auf einem Computerbildschirm auszuwählen. Doch ein Jahr später hatte sich der Zustand des Betroffenen weiter verschlechtert und er war nicht einmal mehr in der Lage, seine Augen auf eine bestimmte Stelle zu richten. Der Eye-Tracker wurde nutzlos. Seine Familienmitglieder begannen deshalb, eine papierbasierte Methode zu verwenden, bei der ein Familienmitglied ein Raster mit Buchstaben vor einem vierfarbigen Hintergrund hochhielt. Die Familienmitglieder zeigten auf die einzelnen Farbabschnitte und Reihen und interpretierten Augenbewegungen als "Ja".

Der Mann und seine Familie befürchteten, dass er irgendwann die Fähigkeit verlieren würde, seine Augen überhaupt zu bewegen. Deshalb suchten Hilfe bei Niels Birbaumer, damals an der Universität Tübingen tätig. Weiterhin wurde Ujwal Chaudhary von der ALS Voice gGmbH einbezogen, einer gemeinnützigen GmbH, die Hirnschnitstellen, sogenannte Brain-Computer-Interfaces (BCIs) und andere neuartige Technologien für Menschen anbietet, die sonst nicht kommunizieren können.

Als Chaudhary den Mann im Februar 2018 kennenlernte, versuchte er zunächst, das Kommunikationssystem, das die Familie bereits nutzte, zu verbessern. Das Team kombinierte sein Eye-Tracking-Gerät mit einer Computersoftware, die Farben und Zahlenreihen vorlas und es dem Mann ermöglichte, mit seinen Augenbewegungen einzelne Buchstaben auszuwählen, um Wörter zu buchstabieren.

Doch als der Mann zunehmend die Kontrolle über seine Augenbewegungen verlor, konnte er auch mit diesem Gerät immer weniger kommunizieren. "Wir schlugen daher vor, eine Elektrode zu implantieren", sagt Chaudhary. Winzige Elektroden können in das Gehirn implantiert werden, um die elektrische Aktivität der Nervenzellen direkt aufzuzeichnen. Das Verfahren, bei dem in der Regel ein Loch in den Schädel gebohrt und die einzelne Schichten des Gehirns durchdrungen werden, birgt ein gewisses Risiko einer Infektion und einer Schädigung des Gehirns. Es war aber ein letzter Ausweg, sagt Birbaumer. "Wenn die nicht-invasiven BCIs und die Eye-Tracker nicht mehr funktionieren, gibt es keine andere Wahl", sagt er.

Der Mann stimmte dem Eingriff mit Augenbewegungen zu, sagt Chaudhary. Auch seine Frau und seine Schwester gaben ihr Einverständnis. Als das Verfahren Ende 2019 von einer Ethikkommission und dem deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte genehmigt wurde, hatte der Mann die Fähigkeit verloren, das Augen-System zu benutzen. Im März 2019 implantierten Chirurgen deshalb zwei winzige Elektrodengitter mit einem Durchmesser von jeweils 1,5 Millimetern in den motorischen Kortex des Mannes – eine Region im oberen Bereich des Gehirns, die für die Steuerung von Bewegungen zuständig ist.

Am Tag nach der Implantation der Elektroden begann das Team, dem Mann bei der Kommunikation zu helfen. Zunächst wurde der Mann gebeten, sich vorzustellen, wie er sich bewegt – dies hat bereits anderen Patienten bei der Steuerung von Prothesen und Exoskeletten geholfen und ist auch der Ansatz, den Elon Musks Unternehmen Neuralink verfolgen will. Die Idee ist, ein zuverlässiges Signal vom Gehirn zu erhalten und dieses in Befehle zu übersetzen.

Aber das Team konnte das BCI zunächst nicht zum Laufen bringen. Nach 12-wöchigen Versuchen verwarfen sie die bisherige Idee und beschlossen, stattdessen einen Ansatz namens Neurofeedback auszuprobieren. Beim Neurofeedback wird einer Person ihre Gehirnaktivität in Echtzeit gezeigt, so dass sie lernen kann, diese zu steuern. In diesem Fall spielte ein Computer einen ansteigenden Ton ab, wenn die Elektroden im Gehirn des Mannes eine erhöhte Aktivität registrierten. Bei einem Rückgang der Hirnaktivität wurde ein abfallender Ton abgespielt.

"Innerhalb von zwei Tagen war er in der Lage, die Frequenz eines Tons zu erhöhen und zu verringern", sagt Chaudhary, der sagt, dass er den Mann im Jahr 2019 bis zum Auftreten Beginn der COVID-19-Pandemie jeden Wochentag in seinem Haus besucht hat. "Es war einfach unglaublich." Der Mann lernte schließlich, seine Gehirnaktivität so zu steuern, dass er einen ansteigenden Ton spielen konnte, um "Ja" zu signalisieren, und einen abfallenden Ton, um "Nein" zu signalisieren.

Dann führte das Team eine Software ein, die das papierbasierte Computersystem nachahmte, das der Mann ursprünglich zur Kommunikation mit seiner Familie verwendet hatte. Der Mann hörte z. B. das Wort "gelb" oder "blau", um einen Block von Buchstaben auszuwählen, aus denen er wählen konnte. Dann wurden ihm einzelne Buchstaben vorgespielt, die er mit einem ansteigenden oder abfallenden Ton entweder auswählen oder verwerfen konnte.

Auf diese Weise war der Mann bald in der Lage, ganze Sätze zu sprechen. "Seine Familie war so begeistert von dem, was er zu sagen hatte", sagt Chaudhary, der zusammen mit seinen Kollegen seine Ergebnisse letzte Woche in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlichte. Einer der ersten Sätze, die der Mann buchstabierte, wurde mit "Jungs, es funktioniert so mühelos" übersetzt.

Die Kommunikation war immer noch langsam – es dauert etwa eine Minute, um jeden Buchstaben auszuwählen. Aber die Forscher glauben, dass das Gerät die Lebensqualität des Mannes dennoch erheblich verbessert hat. Er bat um bestimmte Mahlzeiten und Suppen, wies das Pflegepersonal an, seine Beine zu bewegen und zu massieren, und bat zum Beispiel darum, mit seinem kleinen Sohn Filme anzusehen. Einmal sagte er: "Ich liebe meinen coolen Sohn", so die Forscher. "Oft war ich bis Mitternacht oder nach Mitternacht bei ihm", sagt Chaudhary. "Das letzte Wort war immer 'Bier'."

Chaudhary stellt sich vor, einen Katalog häufig verwendeter Wörter zu entwickeln, der es der Software schließlich ermöglichen könnte, die Wörter des Mannes automatisch zu vervollständigen, während er sie buchstabiert. "Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir das System schneller machen könnten", sagt er.

Niemand weiß, wie lange die Elektroden im Gehirn des Mannes verbleiben können, aber andere Studien haben ergeben, dass ähnliche Elektroden auch noch fünf Jahre nach ihrer Implantation funktionieren. Aber für eine Person mit Locked-in-Syndrom kann "ein einziger Tag einen Unterschied machen", sagt Kianoush Nazarpour von der Universität Edinburgh, der nicht an der Arbeit beteiligt war. "Das ist eine fundamentale Chance für sie, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen", sagt er. Ein einziger Tag mit dadurch erhöhter Lebensqualität könne für diese Personengruppe sehr wichtig sein.

Nazarpour glaubt, dass die Technologie in den nächsten 10 bis 15 Jahren routinemäßig für ähnlich diagnostizierte Personen angeboten werden könnte. "Für eine Person, die absolut nicht kommunizieren kann, ist selbst ein "Ja"/"Nein" potenziell lebensverändernd", sagt er.

Brian Dickie, Forschungsdirektor bei der Motor Neurone Disease Association im Vereinigten Königreich, die Betroffene unterstützt, stimmt zu, dass dieser Zeitrahmen realistisch ist. Er fragt sich jedoch, wie viele Menschen mit einem solchen Krankheitsbild, von der ALS die häufigste Form ist, von solchen BCIs profitieren können.

Der deutsche Betroffene leidet an einer Form der ALS, die als progressive Muskelatrophie (PMA) bezeichnet wird. Bei dieser Form der Krankheit sind in der Regel die motorischen Nerven betroffen, die von der Wirbelsäule zu den Muskeln führen, so dass man die Muskeln nicht mehr kontrollieren kann. In etwa 95 Prozent der ALS-Fälle kommt es jedoch auch zu einer Degeneration des motorischen Kortex im Gehirn, sagt Dickie.

Und auch bei Menschen mit PMA kann diese Degeneration auftreten, was erklären könnte, warum der Mann seit Abschluss der Studie anscheinend einen Teil seiner Kommunikationsfähigkeit verloren hat.

Seit etwa einem Monat benutzt der Mann das Gerät nur noch, um "ja" oder "nein" zu sagen", sagt Birbaumer. "Ich habe keine Ahnung, warum er nur Ja und Nein sagt und keine Sätze mehr formuliert, aber das passiert von Zeit zu Zeit", sagt Birbaumer. "Dafür kann es viele Gründe geben."

Möglich ist zum Beispiel auch, dass spezialisierte Zellen im Gehirn die Elektrode als fremd erkannt haben und sich um sie herum verklumpen, was die Funktionsfähigkeit einschränkt. "Es kann psychologische Gründe haben, technische Gründe, Gründe im Bereich der Elektrode ... aber zumindest ist er in guter Verfassung und hat eine verbesserte Lebensqualität, da er kommuniziert", sagt Birbaumer.

Sollte die Elektrode irgendwann ausfallen, könnten die Angehörigen des Mannes verlangen, dass sie entfernt und durch eine andere ersetzt wird – vielleicht in einer anderen Hirnregion. Aber im Moment reicht es aus, dass er "ja" und "nein" sagen kann, sagt Birbaumer. "Die Familie sagte mir, dass die meisten Informationen, die sie brauchten, in den ersten eineinhalb Jahren ausgetauscht wurden", sagt er. (Ein Gespräch mit der Familie selbst war für diesen Artikel nicht möglich, da sie um die Respektierung ihrer Privatsphäre gebeten hat.) "Mit 'Ja' und 'Nein' kann man vieles sagen", so Forscher Birbaumer, "wenn man die richtigen Fragen stellt".

(bsc)