Experten im Bundestag: Online-Wahlen als "Killer-App" für die eID

Eigentlich sind Wahlcomputer seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2009 hierzulande tabu. Sachverständige raten trotzdem zu neuen Experimenten.

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(Bild: Novikov Aleksey/Shutterstock.com)

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Bundeswahlleiter Georg Thiel hat sich dafür ausgesprochen, bei kleineren Urnengängen "außerhalb der großen Tanker" etwa von Parlamentswahlen Erfahrungen mit der Online-Stimmabgabe zu sammeln. Für das Bestimmen von Abgeordneten sei eine "stabile Wahl" unerlässlich, betonte er am Mittwoch bei einem Fachgespräch zu E-Voting im Bundestag. Dieser werde "per Papier" gewählt. Die Bürger hätten Vertrauen in dieses Verfahren, das seit fast 70 Jahren ziemlich optimal laufe.

Deutschland habe im Jahr 2000 den Weg zu Online-Wahlen beschritten, führte Thiel aus. Dem habe das Bundesverfassungsgericht 2009 einen Riegel vorgeschoben. Die Karlsruher Richter erklärten damals den Einsatz von Wahlcomputern bei der Bundestagswahl 2005 für verfassungswidrig. Dass die Stimmabgabe "öffentlich und transparent" erfolgen müsse, "könnten wir noch irgendwie hinkriegen", meinte Thiel. Beim Auszählungsprozess sei die Kontrollfunktion bei der Stimmauszählung etwa über die Anwesenheit von Parteivertretern aber über E-Voting-Systeme nicht abbildbar.

Bund und Länder schafften es noch nicht einmal, ein gemeinsames Wahlsystem auf die Beine zu stellen, monierte der Insider, der auch Präsident des Statistischen Bundesamtes ist. Alles laufe nur über Schnittstellen. Es gebe auch keinen Markt für eine einheitliche Lösung, sodass der Staat sich dafür "extrem engagieren" müsste. "Never change a winning team", lautet daher sein Motto bezogen auf politische Wahlen. Bei E-Voting sei er hier "sehr skeptisch", da Systembereitsteller auch die hohen Anforderungen des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) erfüllen müssten.

Das BSI sei dabei, ein Schutzprofil für Zertifizierungen von Online-Wahlsystemen und eine einschlägige Richtlinie zu erstellen, führte Jennifer Breuer, Cybersicherheitsexpertin bei der Bonner Behörde, aus. Alles beruhe aber auf der Grundannahme: "Der Rechner des Wählers ist nicht kompromittiert." Letztlich gehe es um die Frage, "welche Restrisiken bin ich bereit in Kauf zu nehmen?"

Ein Gutes hätten Online-Wahlen laut Breuer in jedem Fall: Sie würden dafür sorgen, dass die elektronische Identität (eID) aus dem Personalausweis "mehr genutzt wird". Laut dem "E-Government Monitor 2021" haben zwar 35 Prozent der hiesigen Inhaber eines solchen gültigen Dokuments den Online-Ausweis freigeschaltet. Bislang genutzt haben ihn aber nur neun Prozent.

Eine tragfähige eID sei die Voraussetzung für eine Online-Stimmabgabe, bestätigte Jan Villemson vom estnischen Lösungsanbieter Cybernetica. In Estland sei das zunehmende Angebot von E-Voting die "Killer-App" für die Akzeptanz des Online-Ausweises gewesen. Nun plane die EU-Kommission mit der neuen eIDAS-Verordnung eine E-Wallet mit verschiedenen Attributen, von der eines der Nachweis der Wahlberechtigung wäre. Kampagnen gegen Online-Wahlen führten vor allem Parteien, die befürchteten, dabei Stimmen zu verlieren.

Anlass für die Expertenrunde war, dass der Dienstleister VDI/VDE Innovation + Technik im Auftrag des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag (TAB) eine Studie zu Vor- und Nachteilen von E-Voting durchführt. Auch Simone Ehrenberg-Silies aus dem Forscherteam sieht Estland als Vorreiter in diesem Bereich. 2019 hätten dort bei den Parlamentswahlen 43,8 Prozent der Berechtigten ihre Stimmen online abgegeben, nächstes Mal seien es voraussichtlich über 50 Prozent.

Wenn ein Wahlwilliger über 30 Minuten brauche, um zum Lokal hin- und zurückzugehen, sei er geneigt, online abzustimmen, erläuterte Robert Krimmer, Professor für E-Governance in Estland. Wahlen seien generell eine "Feier der Demokratie" sowie Ausdruck der Kultur und Identität eines Landes. In dem baltischen Staat gebe es nur die zwei Verwaltungsebenen von Bund und Kommunen. Daher sei die E-Voting-Umsetzung recht leicht gewesen. Online-Wahlen seien Treiber für die E-Government-Technologie, aber nicht für deren langfristige Nutzung. Die Politik müsse als erstes die Frage beantworten, welches Problem sie damit lösen wolle.

Die Erfahrungen aus anderen EU-Ländern sind laut Ehrenberg-Silies weniger ermutigend. Die Schweiz habe ihre 2004 gestarteten Versuche mit E-Voting zunächst eingestellt, wolle diese nun aber wieder aufnehmen. Vor allem Auslandsschweizer, die bislang stark auf die Briefwahl bauten, hätten sich massiv dafür eingesetzt. In Norwegen habe es Experimente 2011 bei Kommunalwahlen und 2013 bei Parlamentswahlen gegeben. Die Technik habe derzeit aber keine politische Unterstützung, obwohl die Bevölkerung mehrheitlich dafür sei. Generell sei das Risiko der Manipulation für alle Wahlergebnisse bei E-Voting groß.

Dessen Nutzung sei mit immer so um die 20 Prozent in über 300 Versuchen in der Schweiz nicht so hoch gewesen, "wie man sich das erwartet hätte", ergänzte der Züricher Rechtswissenschaftler Uwe Serdült. Die Anwender sähen sich immer in einem "Zwiespalt zwischen Bequemlichkeitsfaktor und Sicherheitsproblematik". In Norwegen sei eine wichtige Voraussetzung für die Tests gewesen, "dass das Vertrauen in das Wahlsystem gewahrt werden sollte", sagte die Osloer Sozialforscherin Signe Bock Segaard. Es sei um eine Ergänzung, nicht einen Ersatz des Urnengangs gegangen. Fast 90 Prozent der Bevölkerung seien für diesen Ansatz.

Das VDI/VDE-Team hat als Zwischenergebnis in einem Thesenpapier diesen Weg ebenfalls empfohlen. Online-Abstimmungen könnten demnach vor allem Wählern wie Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder im Ausland weilenden Bürgern die Teilnahme erleichtern. Anne Busch-Heizmann aus der Forschergruppe betonte: Wenn Online-Wahlen nachhaltig und sicher eingeführt werden sollten, brauche es einen schrittweisen experimentellen Prozess mit Pilotprojekten.

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Die Universität Jena wähle dieses Jahr zum zehnten Mal ihre acht verschiedenen Gremien online, brachte deren Wahlamtsleiter Marco Rüttger ein Beispiel dafür. Im Lokal wäre ein solcher Akt mit 150 Stimmzetteln, die auf mehrere hundert Arten kombiniert werden können, auch kaum durchführbar. Nach organisatorischen Startschwierigkeiten sei das Vertrauen in die Technik mittlerweile da: "Die Briefwahlanträge sind im letzten Jahr auf null zurückgegangen." Die Anforderungen an die Sicherheit seien aber auch nicht so groß wie bei politischen Wahlen.

2023 will auch die Techniker Krankenkasse (TK) die Sozialwahlen elektronisch durchführen. Von den über acht Millionen Wahlberechtigten bei der drittgrößten einschlägigen Abstimmung hierzulande könnte theoretisch jeder online wählen, unterstrich Jörg Ide aus dem Vorstand der Versicherung. Es gehe darum, die Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern. Anbieter gebe es genügend, der auserkorene Partner habe schon viereinhalbtausend Online-Wahlen durchgeführt in verschiedenen Ländern mit keinem einzigen Sicherheitsvorfall.

Auch beim E-Voting müssten die Grundsätze einer freien, geheimen, gleichen, öffentlichen, allgemeinen und direkten Wahl so gut wie möglich umgesetzt werden, mahnte Melanie Volkamer, Leiterin der Forschungsgruppe "Security, Usability, Society" beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Grundsätzlich sei es zwar möglich, Hackergefahren mit kryptographischen Verfahren wie einer verteilten Schlüsselgenerierung und Mix-Netzen zu reduzieren. Es gebe auch Ende-zu-Ende-verifizierbare Wahlprotokolle, wie sei bei der TK erstmals eingesetzt werden sollten. Dies alles sei aber "komplex, fehleranfällig und teuer". Angesichts der vielen Herausforderungen bis hin zum Langzeitschutz des Wahlgeheimnisses sollte der Bundestag vorerst nicht online gewählt werden.

(olb)