Kommentar: Statt Warnung vor Killervariante lieber Pandemie-Plan für den Herbst

Statt Schreckensszenarien heraufzubeschwören, sollte die Politik nutzen, was die Wissenschaft bietet, um uns auf den Herbst vorzubereiten. Das ist eine Menge.

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Kinder im Schulalter mit medizinischen Masken.

(Bild: David Tadevosian/shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.

Es ist ein feiner Grat zwischen gesundem Respekt und irrationaler Angst. Angst als Basis-Emotion ist grundsätzlich eine gute Erfindung. Die akute, gesunde Angst führt – je nach Betroffenen – entweder in die Flucht oder den Angriff. Zum Beispiel, wenn man nachts einem Rudel Wölfe über den Weg läuft. Dabei hilft das Adrenalin ungemein, nicht gefressen zu werden. Der gesamte Organismus läuft auf Hochtouren, das Gehirn feuert, die Muskeln entwickeln Kräfte, die man sich selbst nie zugetraut hätte. Das hält der Körper für eine kurze Zeit durch und hat die Wölfe entweder in die Flucht geschlagen oder ist selbst erfolgreich geflohen. (Rennen ist dabei übrigens keine gute Idee, aber das ist eine andere Geschichte.)

Nun treffen die Wenigsten nächtens auf Wölfe. Vielmehr ist "der große böse Wolf" der letzten zwei Jahre COVID-19. Der ist leider auch tagsüber unterwegs und – noch ein Erschwernis – Angst, zumal irrationale hilft gegenüber dem Virus nicht. Das Einzige, was hilft, ist gesunder Respekt vor einem unsichtbaren Gegner und verantwortungsvolles Handeln.

Ein Kommentar von Jo Schilling

Jo Schilling ist TR-Redakteurin. Sie hat nie ganz aufgehört, Naturwissenschaftlerin zu sein und ist überzeugt, dass komplizierte Zusammenhänge meist nur kompliziert sind, weil noch die richtigen Worte für sie fehlen.

Man kann nicht von jedem erwarten, dass er rational und verantwortlich in einer Pandemie handelt. Angst hat ihre eigenen Gesetze und das Spektrum der Reaktionen ist so breit wie unsere Gesellschaft. Diese Gesellschaft zusammen zu halten und zu schützen, ist die Aufgabe von Politikern, egal ob die Menschen dreifach geimpft sind oder lieber spazieren gehen. Dabei ist es hilfreich, wenn diese Politiker – allen voran unser Gesundheitsminister – wissen, wie Angst funktioniert. Werden Menschen ständig mit dem gleichen Angstauslöser konfrontiert, können – ebenfalls wieder abhängig von der individuellen Persönlichkeit – zwei Dinge passieren: Entweder entwickeln diese Menschen eine veritable Angststörung, kommen aus der Angst nicht wieder heraus und erstarren. Oder sie stumpfen ab.

Wenn unser Gesundheitsminister angesichts stabil hoher, aber wie sich glücklicherweise gezeigt hat, aktuell nur mäßig lebensbedrohlicher Infektionszahlen, in einer Situation der Entspannung – die politisch offenbar so gewollt ist – Schreckensszenarien von Killervarianten in die milde Frühlingsluft posaunt, spielt er mit der Angst. Er manipuliert, versucht das Angstlevel aufrecht zu erhalten (wie gesagt: Das geht nicht) und seine persönliche Einschätzung der Lage gegen die demokratisch entschiedene Marschrichtung durch die Hintertür in die Gesellschaft zu transportieren.

Die Proteste aus der Wissenschaft kamen prompt und heftig. Wer das Wort "Killervariante" in den Mund nimmt, muss sich nicht wundern, wenn ihm der Gegenwind ins Gesicht bläst. Vor allem, wenn er sich stets als Mann der Wissenschaft positioniert und seine medizinisch-akademischen Würden als Anker für seine Glaubwürdigkeit in die Wogen der Pandemie wirft.

Dass derzeit viele neue Varianten aufploppen, ist jedoch erst einmal kein Grund zur Sorge, sondern ein biologisches Prinzip. Viele Infizierte bedeutet, dass sich massenhaft Viren in Umlauf befinden, die mit jeder Kopie, die sie von sich anfertigen, Gefahr laufen, Fehler zu machen. Haben Sie schon mal einen Text mit 29.903 Zeichen ohne Leerzeichen fehlerfrei abgeschrieben? So viele Basenpaare hat das SARS-CoV-2 Genom. Und die Vervielfältigung von Viren ist im Prinzip ein ständiges Abschreiben. Jeder Fehler dabei ist eine potenzielle Mutation. Die Gleichung ist simpel: viele Infizierte = viele Mutationen. Welche dieser Mutationen sich durchsetzen wird, wie ansteckend oder wie gefährlich sie sein wird, weiß niemand.

Ja, es könnte eine neue Variante den Herbst beherrschen, die gefährlicher ist als Omikron, aber ebenso infektiös. Allerdings durchlaufen derzeit so viele Menschen eine Omikron-Infektion, dass derzeit niemand seriös abschätzen kann, welchen Einfluss eine solche Variante auf den weiteren Pandemieverlauf haben wird. Auch über die Wirksamkeit spezieller Omikron-Impfstoffe herrscht noch lange keine Klarheit, denn das Immunsystem kann ebenso abstumpfen wie unser Angstzentrum. Ebenso wenig wissen wir über den Nutzen einer vierten Impfung. Was für eine Variante uns ab Herbst begleiten wird, wissen wir ab Herbst. Und welche Auswirkungen sie haben wird, wissen wir, wenn die neue Welle rollt.

Wie wäre es stattdessen mit strategisch klugem Handeln, um sich auf neue Varianten und ihre Folgen vorzubereiten, statt Schreckensszenarien herauf zu beschwören? Wie wäre es mit mehr statt weniger Tests gegen die Ungewissheit? Und zwar nicht Schnelltests, auch nicht einfache PCR-Tests, die nur noch für "vorrangig priorisierte Personengruppen" laut Nationaler Teststrategie vorgesehen sind.

Um dem Virus gut vorbereitet im Herbst entgegen treten zu können, müsste nicht weniger, sondern mehr getestet werden – und zwar die gesamte Gensequenz: systematische Tiefensequenzierung nach einem sinnvollen epidemiologischen Muster. Denn Tiefensequenzierung ist nun einmal der Weg, neue Varianten zu finden. Tiefensequenzierung hat innerhalb eines Tages Omikron identifiziert. Welche Möglichkeiten Tiefensequenzierung eröffnen könnte, haben Forschende des Spanischen Nationalen Forschungsrat (CSIC) und der Fundación Jiménez Díaz kürzlich gezeigt: Sie haben bereits im April 2021 in Erkrankten, von denen einige vollständig geimpft und andere gar nicht geimpft waren, Mutationen gefunden, die später so genannte "Variants of concern" charakterisiert haben. So waren für Omikron typische Mutationen bereits ein halbes Jahr bevor Omikron als eigene Variante entdeckt wurde, sichtbar. Und zu glauben, hier zu testen bringe nichts, da neue Varianten nur aus Afrika zu uns kommen, wäre ebenso arrogant wie kurzsichtig.

Die Entwicklerinnen und Entwickler der mRNA-Impfstoffe betonen stets, dass es ein Leichtes sei, neue Impfstoffe nach demselben Muster des Wildtyp-Impfstoffes zu entwickeln. Systematische Tiefensequenzierung böte die Chance, Impfstoffe für Mutationen zu entwickeln, die sich frühzeitig in jetzt Infizierten als mögliche Pandemietreiber abzeichnen. Ist die Welle erst da, hinken die Impfstoffe nur noch hinterher. Ein Omikron-Impfstoff soll im September zur Verfügung stehen. Aber ist Omikron dann noch unser Thema? Systematische Tests mit Tiefensequenzierung würden zumindest Hinweise darauf liefern. (jsc)