Deglobalisierung: Wie neue Lieferketten die globale Wirtschaft verändern

Die USA haben mit dem IPEF ein Handelsprogramm vorgestellt, das eine Absage an die Freihandelsidee ist. Eine Reaktion auf Blockbildung und Sicherheitsängste.

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(Bild: cybrain/Shutterstock.com)

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Von
  • Martin Kölling
Inhaltsverzeichnis

US-Präsident Joe Biden hat im Mai einen wichtigen Kern seiner Asienstrategie vorgestellt: In Japan rief er das "wirtschaftliche Rahmenwerk für den Indo-Pacific" ins Leben, das gemeinhin unter der englischen Abkürzung IPEF (Indo-pacific economic framework) firmiert. Mit zwölf weiteren Staaten der Region wollen die USA nun neue Regeln für die Zusammenarbeit bei Hightech-Lieferketten, Datendiensten, Investitionen in Umwelttechnologien und anderen Themen diskutieren.

Ob und wie rasch sich das IPEF entwickelt, ist dabei noch offen. Denn anders als bei herkömmlichen Freihandelsabkommen fehlt ein wirtschaftlicher Anreiz, den die USA früher Bündnispartnern angeboten haben: ein freier Zugang zum amerikanischen Markt. Doch die Welt muss sich wohl oder übel daran gewöhnen, dass die USA künftig ihre Handelspartner je nach Eigenbedarf aussuchen will. Die US-Regierung machte nämlich keinen Hehl daraus, dass sie im IPEF ein Modell für die Zukunft sieht. Sie reagiert damit auf neue Machtkonstellationen.

Das machte Jake Sullivan, der Sicherheitsberater Bidens, deutlich: "Ich denke, dass dies das neue Modell der wirtschaftlichen Vereinbarung sein wird, das die Bedingungen und Regeln für Handel, Technologie und Lieferketten für das 21. Jahrhundert festlegen wird", sagte Sullivan kurz vor dem Startschuss für das IPEF in Südkorea. "Und wir pflanzen damit unseren Anspruch in den Boden, dass wir im Mittelpunkt des Rahmenwerks stehen wollen."

Die globale Handelsordnung – und gerade Exportnationen wie Deutschland, Japan und Korea – wird die Folgen spüren, selbst wenn das IPEF hinter den amerikanischen Erwartungen zurückbleiben sollte. Denn die Botschaft Bidens ist klar: Traditionelle multilaterale Abkommen, die möglichst viele Staaten einschließen, genießen keine Priorität mehr in Washington. Stattdessen stehen wir – wie einige in den USA es nennen – vor Plurilateralismus, oder wie die südkoreanische außenpolitische Expertin Lee Shin Wha sagt, vor einem "hybriden Multilateralismus".

Die Idee ist die gleiche und nicht auf die USA beschränkt: Je stärker sich die USA und China wirtschaftlich bekriegen, desto dringender suchen Staaten nach Freunden, mit denen sie bei Lieferketten für Schlüsselprodukte wie Akkus oder Chips zusammenarbeiten. So wollen sie die Abhängigkeit von einzelnen Staaten verringern und die eigene Wirtschaft widerstandsfähiger gegen Probleme in der globalen Lieferkette machen. Einige Experten warnen sogar vor einer weitreichenden Deglobalisierung.

Wohin die Reise geht, ist noch offen. Aber die Reorganisation der Lieferketten hat bereits begonnen. Südostasien und Südasien gewinnen schon seit Jahren als Produktionsstandort an Bedeutung. Das Stichwort war lange China plus eins. Mit den wachsenden Handelsstreitigkeiten der Großmächte und dann der Pandemie hat sich der Trend noch beschleunigt.

Post aus Japan

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus - und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends aus Japan und den Nachbarstaaten.

Japan finanziert China-flüchtigen Unternehmen bereits seit zwei Jahren den Umzug von Fabriken in andere asiatische Länder oder die Heimat. Auch Konzerne reagieren, in dem sie sich auf zwei Lieferketten vorbereiten: eine für die USA, eine für China. Und die Organisation für China wird dabei bereits oft durch Brandmauern vom restlichen Unternehmenskörper getrennt.

Die neuen Modewörter lauten Nah- und Re-Shoring, also Rückholaktionen von Fabriken in benachbarte Länder oder die Heimat. Das schmeckt schon sehr nach Protektionismus und einem Ende der Globalisierung. Beispiele dafür sieht man schon jetzt bei Akkus und Chips: Ostasiatische Unternehmen investieren massiv in neue Batterie- und Chipfabriken in den USA, Intel in Europa. Der Chipriese TSMC aus Taiwan, der gerade in Japan ein Chipwerk baut, hat auch ein Werk in Europa im Visier.

Bidens IPEF steht nun für eine etwas freundlichere Variante, wenn man nicht gerade Russland oder China heißt: das Friend-Shoring. Darunter versteht man den Aufbau strategischen Handels mit Ländern, die als freundlich gelten. Im Westen wird bei der Partnerwahl der Begriff Wertepartner in den Raum geworfen. Aber allzu genau sollte man den Begriff nicht nehmen. Denn es werden auch autokratisch regierte Länder in den Freundeskreis einbezogen, wenn sie als Wert Rohstoffe zur Lieferkette beitragen können.

So versuchen die USA gerade, den Ölproduzenten Venezuela wieder als Rohstofflieferanten für die Versorgung des Westens zu reaktivieren. Und wer weiß, wie lange Japan, Südkorea und Europa angesichts des grassierenden Trumpismus noch die USA wirklich als Wertepartner wahrnehmen werden.

Aber wenn es hart auf hart kommt, wird in Zukunft das Streben nach mehr Sicherheit ideologische Bauchschmerzen lindern. Wichtiger wird die wachsende Spaltung zwischen den USA und China sowie Pekings strategischem Partner Russland. Der mögliche Druck der USA, sich für eine Seite zu entscheiden, ist dabei nur eine Schubkraft. China erhöht das Tempo der Spaltung derzeit noch durch seine Null-Covid-Strategie.

Mit ihren harten Lockdowns droht die Regierung, das Land selbst aus den Lieferketten auszuschließen. Und je stärker die chinesische Wirtschaft bremst, desto attraktiver erscheinen auf einmal wieder die USA für die neutralen Länder Asiens.

Das wahrscheinlichste Resultat des Gefahrencocktails ist daher eine überlappende Blockbildung für die Lieferketten von Schlüsselprodukten. Die USA und China werden dabei global um Freunde buhlen. Die USA haben dabei den Vorteil, die alten Industrienationen zum engeren Kreis zählen zu können. Denn Europa zittert vor Russland, Asien vor einem ultranationalistischen China als möglichen Aggressor. Aber China arbeitet hart an einer autokratischen Alternative zu den USA und versucht gerade, die Inselstaaten im Pazifik mit generösen Avancen auf seine Seite zu ziehen.

Gleichzeitig werden exportorientierte Mittelmächte wie Japan, Südkorea und die Länder der EU stärker zusammenarbeiten, um den geregelten Handel zu verteidigen. Zudem werden sie ihrerseits versuchen, neutrale Staaten in ihre eigenen Freundeskreise aufzunehmen. Denn nur im Bund können die anderen Länder versuchen, sowohl Chinas Hegemoniestreben als auch den amerikanischen Eigensinn zu beeinflussen.

Einfach wird es dabei nicht, die Lieferketten umzubauen: Chinas sehr gut ausgebaute Infrastruktur, Technik-Cluster und die berechenbare Korruption gibt es in dieser Kombination in keinem anderen Schwellenland der Region. Es droht daher ein langer, krisenhafter Prozess mit vielen Unbekannten. Fest steht allerdings schon jetzt, dass Unternehmen politische Risiken nicht mehr ignorieren können. Auch werden Produkte teurer, da Effizienz nicht mehr das alleinige Kriterium für das Design der Lieferkette ist, sondern mit Versorgungssicherheit und politischen Überlegungen konkurriert. Ob die Lieferketten so auch resistenter werden, muss sich noch zeigen.

(jle)