Ukrainische IT-Szene im Krieg: Luftalarm, Ehrenamt und Arbeit

Softwareentwicklung im Krieg: Yurii Kostiuchenko, CBDO von UBOS in Lwiw, erzählt von den Zuständen in der Ukraine und den Auswirkungen auf die IT-Branche.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 37 Kommentare lesen
Fabric,Curved,Flag,Of,Ukraine,,Ua.,Blue,And,Yellow,Colors.

(Bild: TexBr / Shutterstock.com)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Andrea Maurer
Inhaltsverzeichnis

Während der Verteidigung gegen die russische Invasion in der Ukraine ist die dortige IT-Industrie eine der wichtigsten wirtschaftlichen Stützen des Landes. Viele industrielle Produktionsstätten sind zerstört, landwirtschaftliche Flächen durch russische Besatzung oder Verminung unbestellbar, aber das Entwickeln und Coden in den IT-Firmen der Ukraine geht weiter. heise Developer wollte unter anderem wissen, wie es den Unternehmen und Angestellten aktuell geht, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben und wie sie ihr Land unterstützen. Außerdem stellt sich die Frage, was IT-Spezialisten und Spezialistinnen aus dem Ausland zur Unterstützung der Ukraine tun können.

Yurii Kostiuchenko

Yurii Kostiuchenko tat seine ersten unternehmerischen Schritte im Alter von sechs Jahren mit dem Verkauf von Blumen aus dem Garten seiner Mutter. Als Erwachsener war er Mitbesitzer eines Pubs und einer kleinen Käserei, bevor er fünf Jahre im IT-Service- und Produktbereich gearbeitet hat. Dreieinhalb Jahre hat er Erfahrung in C-Level-Positionen als Head of Sales, CFO und CBDO. Er ist zudem Education Mentor an der IT STEP University in Lwiw.

Im zweiten Teil der im Mai gestarteten Interviewreihe zur ukrainischen IT-Szene im Krieg spricht heise Developer mit Yurii Kostiuchenko, der CBDO (Chief Business Development Officer) der Low-Code-Plattform UBOS mit Sitz in Lwiw (Lemberg) ist.

Ukrainische IT-Szene im Krieg

heise Developer: Wie ist derzeit die Situation in Lwiw?

Yurii Kostiuchenko: Lwiw befindet sich ja sehr westlich in der Ukraine, ganz in der Nähe der polnischen Grenze. Bei uns ist es also recht ruhig, es gab aber schon einige Bombenangriffe hier. Aber grundsätzlich ist es hier ganz ok im Moment.

In den ersten zehn Kriegstagen gab es in Lwiw etliche Bombenalarme. Wir haben in unserer Kleidung geschlafen, weil wir jede Minute damit rechnen mussten, uns im Keller in Sicherheit zu bringen. Die ersten zwei Kriegswochen waren die schwierigsten für uns. Aber wenn das der Preis ist, für unsere Unabhängigkeit und die Möglichkeit in einem modernen Land zu leben, dann ist das unser Schicksal.

Wir haben hier viele Ehrenamtliche, die sich für Flüchtlinge, die territorialen Verteidigungseinheiten und das ukrainische Militär engagieren. Sie organisieren beispielsweise Schutzhelme und Schutzwesten, Lebensmittel, Medikamente und andere überlebenswichtige Güter. Die Ehrenamtlichen machen ihre Sache sehr gut. Dabei dürfte die Koordination der ehrenamtlichen Arbeit für sie eine große Herausforderung darstellen. Auf Basis unseres Produkts – der Low-Code-Plattform UBOS – planen wir die Erstellung einer Art CRM-Panel. Das möchten wir interessierten Ehrenamtlichen zur Verfügung stellen. Wir hoffen, dass es ihnen die Koordination ihrer Arbeit erleichtert. So könnten die Ehrenamtlichen zum Beispiel sehen "Ok, da bringt jetzt jemand mit dem Auto Lebensmittel und andere Vorräte von Lwiw nach Kharkiv. Gleichzeitig gibt es in Kharkiv Menschen, die zur ukrainisch-polnischen Grenze fliehen wollen, dann kann der Fahrer sie auf dem Rückweg mitnehmen."

Wie war deine Woche bisher – jetzt Anfang Mai?

Kostiuchenko: Sie war so wie die letzten Wochen: Luftalarm, ehrenamtliche Arbeit, Arbeit an verschiedenen sozialen Hilfsprojekten und kommerziellen Projekten.

Haben Angestellte die Firma vorübergehend verlassen, weil sie zum Beispiel zur ukrainischen Armee gegangen sind?

Kostiuchenko: Wir leisten alle ehrenamtliche Arbeit in unserer Freizeit und wir spenden. Einer unserer Angestellten hat sich zunächst der Territorialverteidigung angeschlossen und dient nun in der Armee. Wir halten ihm seinen Arbeitsplatz frei und zahlen ihm sein Gehalt weiter und unterstützen ihn dadurch. Was die Gehälter betrifft, haben wir unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen das Gehalt die ersten zwei Monate seit Ausbruch des Krieges immer einen Monat im Voraus gezahlt, sodass sie die Möglichkeit hatten, mehr zu spenden. Wir haben das auch deshalb gemacht, weil gerade am Anfang nicht sicher war, ob wir hierbleiben können oder fliehen müssen.

Bezahlt ihr die Gehälter weiterhin in der ukrainischen Landeswährung? Der Wertverlust ist ja momentan enorm.

Kostiuchenko: Selbstverständlich wird unsere Wirtschaft gerade zerstört, Produktionsstätten werden zerstört. Uns ist klar, dass unser Land aktuell überlebt, weil wir Spenden aus den USA, aus Europa und natürlich auch aus Deutschland bekommen. An dieser Stelle bedanke ich mich sehr für diese Unterstützung. Aber unsere IT-Firma ist davon weniger betroffen: Wir haben für unsere Low-Code-Plattform UBOS nicht nur Kunden in der Ukraine, sondern auch in anderen Ländern, beispielsweise in den USA und Israel. Diese Kunden bezahlen auch weiterhin für unseren Service. Wir verdienen weiterhin unser Geld.

Ukrainischen Unternehmen mit vorwiegend Kunden und Kundinnen in der Ukraine oder Unternehmen, deren Geschäfts- und Produktionsstätten von den Russen zerstört wurden, geht es weitaus weniger gut. Es mussten bereits Unternehmen schließen und die Beschäftigten dort haben ihre Arbeit verloren. Um deine eigentliche Frage zu beantworten: Wir bezahlen alle Löhne und Steuern weiterhin vollständig in unserer Landeswährung. Sie ist momentan fast wieder auf demselben Niveau wie vor dem Kriegsausbruch, aber selbstverständlich sehen wir auch die steigenden Preise für Lebensmittel und Energie.

Das Problem mit den steigenden Preisen haben wir auch in Deutschland, aber selbstverständlich kann man die Situation nicht mit der in der Ukraine vergleichen, wir haben hier glücklicherweise keinen Krieg.

Kostiuchenko: Der Krieg macht uns selbstverständlich sehr traurig, aber es gibt auch noch eine weitere Sache: Die Ukraine kann normalerweise Lebensmittel für über 600 Millionen Menschen weltweit produzieren und hat das vor dem Krieg auch getan. Aber aktuell ist das schwierig, weil unsere Häfen eingenommen sind und die russischen Besatzer unser Getreide stehlen. Wir in der Ukraine können mit Hirn, Händen und Getreide unser Geld verdienen. Mit Hirn meint die Menschen, die qualifizierte Arbeit mit dem Kopf machen. Mit Händen, die die in der Produktion arbeiten. Getreide meint unseren weltweiten Export von Getreide sowie anderen qualitativ hochwertigen Lebensmitteln. Aktuell können wir überwiegend "Hirnarbeit" leisten, weil etliche unserer Produktionsstätten von den russischen Besatzern zerstört wurden. Ich weiß nicht, ob das ihr Plan ist oder, ob sie einfach die zivile Infrastruktur zerstören wollen. Immerhin kann in den unbesetzten Gebieten die Produktion von Lebensmitteln und anderen Waren teilweise weitergehen.

Um noch mal auf die Gehälter zu sprechen zu kommen: Gibt es einen Pay-Gap zwischen ukrainischen Softwareentwicklern und -entwicklerinnen und denen aus westlichen Ländern?

Kostiuchenko: Das ist eine gute Frage, denn vor circa zehn bis zwölf Jahren waren die Preise für an uns outgesourcte Entwicklungsarbeiten ziemlich niedrig und damit auch die Löhne. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, in dieser Nische zu wachsen. Aber über die Jahre sind die Preise für unsere Arbeit gestiegen und so auch unsere Löhne. Hier gibt es Softwareentwickler und -entwicklerinnen, die das Gleiche kosten wie jemand im übrigen Europa. Im Schnitt kostet ein mittelqualifizierter Entwickler in der Ukraine vielleicht so 20 bis 25 US-Dollar pro Stunde, in den USA so um die 40, 45, 60, 65 und in Europa 35 bis 45 US-Dollar. Und unterschiedliche Entwickler machen auch unterschiedliche Arbeiten. Davon hängt auch noch mal die Lohnhöhe ab.

Wir haben hier viele Universitäten, die in die IT-Ausbildung der Studierenden investieren, insbesondere was neuartige IT-Technologien anbelangt. Das ist der Weg unserer Regierung, gute Zukunftschancen für die Studierenden zu schaffen. Der Low-Code-Ansatz ist etwas Neuartiges und es steigert den Wert der Absolventinnen und Absolventen auf dem Arbeitsmarkt, wenn sie sich in der Bedienung einer Low-Code-Plattform auskennen. Wir hatten die Chance, einen Kurs zu UBOS an der IT STEP University in Lwiw zu geben: Die Studierenden haben gelernt, was der Low-Code-Ansatz ist, wie sie ein Softwareprojekt mit UBOS realisieren und am Ende auch Noten für den Kurs bekommen. Im September werden wir den Kurs an zwei weiteren Universitäten anbieten.

Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat UBOS?

Kostiuchenko: Momentan haben wir 12 Leute. Wir suchen aktuell noch zwei weitere Entwickler und Entwicklerinnen. Das ist gut, weil wir so zwei weiteren wundervollen Menschen in dieser schwierigen Zeit eine Arbeit geben.