W3C-Chef Jeff Jaffe: "Wir nehmen das Web nicht als gegeben hin"

Das W3C, bislang von mehreren Universitäten betrieben, wird eine eigenständige Organisation. W3C-CEO Dr. Jeff Jaffe spricht über Gründe und Auswirkungen.

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(Bild: akedesign/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Christian Liebel

Das World Wide Web Consortium (W3C) wird zum 1. Januar 2023 eine eigenständige, gemeinnützige Non-Profit-Organisation. Zuvor wurde das Konsortium, dem sich derzeit 463 Mitgliedsorganisationen aus aller Welt angeschlossen haben, von unterschiedlichen Universitäten und Forschungseinrichtungen als Gastgeber getragen ("Hosted Model"). Christian Liebel sprach mit Dr. Jeff Jaffe, CEO des W3C, über Gründe und Auswirkungen dieses Umbaus.

Überkreuz - Christian Liebel

Christian Liebel (@christianliebel) ist Softwareentwickler bei Thinktecture in Karlsruhe. Er unterstützt seine Kunden bei Digitalisierungsprojekten und der Modernisierung von Businessanwendungen. Sein Steckenpferd sind Cross-Platform-Anwendungen auf Basis moderner Webtechnologien wie Angular, Progressive Web Apps, Project Fugu und Web Components. Für seine Community-Beiträge wurde er als Microsoft MVP und Google GDE ausgezeichnet.

Christian Liebel: Das W3C setzte traditionell auf das Hosted Model, die Organisation wurde von mehreren Universitäten und Forschungseinrichtungen gemeinsam betrieben. Wie kam es dazu?

Dr. Jeff Jaffe: Nachdem das Web 1991 für die Öffentlichkeit freigegeben wurde, verbreitete sich die Webtechnologie sehr schnell. 1994 traten Vertreter des Massachusetts Institute of Technology (MIT) an Tim Berners-Lee heran, um das World Wide Web Consortium zu gründen, da sie Erfahrung mit Technologiekonsortien hatten (siehe die Pressemitteilung des MIT vom Oktober 1994). Tim erkannte jedoch von Anfang an, dass das W3C global aufgestellt sein müsse.

Innerhalb weniger Jahre schlossen das MIT, Keio in Japan und Inria (später übertragen auf das ERCIM, ein europäisches Technologiekonsortium) Vereinbarungen, um das W3C gemeinsam und auf Augenhöhe zu betreiben. Diese Hosting-Vereinbarungen bilden das Fundament, auf dem das W3C heute aufsetzt. Im Jahr 2013 kam die Beihang-Universität in China als weiterer Host hinzu. Diese Verwaltungspartnerschaft, das sogenannte Hosted Model, ermöglicht die Verwaltung der W3C-Mitglieder und die Beschäftigung von W3C-Mitarbeitern weltweit, die unter der Leitung der W3C-Geschäftsführung arbeiten.

Nach 28 Jahren soll das W3C nun zum 1. Januar 2023 eine eigenständige Legal Entity, also eine unabhängige juristische Person werden. Warum ist dieser Schritt notwendig?

Jaffe: Neben verschiedenen weiteren Gesichtspunkten gibt es zwei Hauptgründe, die die Einführung einer unabhängigen Legal Entity erforderlich machen:

Zum einen die Notwendigkeit, unsere Mitglieder in die formale Leitung einzubinden. Das soll über ein Board of Directors geschehen, um eine klarere Berichterstattung, Verantwortlichkeit, größere Diversität, bessere strategische Ausrichtung und globale Koordination zu erreichen. Von Beginn an war das W3C eine mitgliedergetriebene Organisation, bei der die teilnehmenden Mitglieder ihre Patente gebührenfrei zur Verfügung stellen und sich gemeinsam um den Erhalt und die Weiterentwicklung des Web kümmern. Mit den Vertretern unserer Hosts und unseren internen Führungsgruppen, von denen einige von W3C-Mitgliedern in beratender Funktion gewählt wurden, verfügen wir über erstaunliche Talente in der Leitung von technischen und Standardisierungsprozessen. Wir wollen und müssen noch weiter gehen, mit einem Gremium, das aus CEOs und CTOs von Unternehmen besteht – und aus Führern der Zivilgesellschaft.

Weiterhin ist der Bedarf nach neuen Webfunktionen über die Jahre gestiegen und die drängenden Probleme des Web sind stärker hervorgetreten. Dies hat sich in den letzten Jahren unter dem Druck, der von der Corona-Pandemie ausgeht, noch verschärft. Um diese Herausforderungen zu bewältigen und den Anforderungen im richtigen Tempo gerecht zu werden, muss das Web-Konsortium auf eine rasche Entwicklung und Kompetenzerwerb in neuen Bereichen setzen, seien es Medien, Web-Barrierefreiheit, Datenschutz, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Fehlinformationen und so weiter. Die Fachkenntnisse, die wir von unseren Mitarbeitern benötigen, ändern sich ständig, und die Einstellungsprozesse in den akademischen Host-Einrichtungen bieten hierfür zu wenig Flexibilität.

Welche Auswirkungen wird die Umstrukturierung auf das Konsortium, die Entwickler und das World Wide Web haben?

Jaffe: Wir erwarten keine Veränderungen hinsichtlich unserer Vorgehensweisen im Umgang mit Entwicklern und der breiteren Web-Community. In der üblichen Interaktion wird es keine unmittelbaren Änderungen geben. Wie eben schon gesagt, gehen wir davon aus, dass uns die Umstrukturierung ermöglicht, das Tempo zur Bewältigung der wachsenden Anforderungen im Web zu erhöhen – sowohl für funktionale Verbesserungen, aber auch um gesellschaftliche Anliegen zu adressieren.

Innerhalb des W3C wird schon seit einiger Zeit über eine Zukunft des W3C ohne Direktor ("Director-Free") diskutiert, wenn der derzeitige Direktor Tim Berners-Lee zurücktritt. Adressiert die Umwandlung in eine Legal Entity diese Thematik?

Jaffe: Die Umwandlung in eine Legal Entity geht Hand in Hand mit den Director-Free-Diskussionen. Ein großer Teil des Erfolgs des W3C und des Web ist der Verdienst von Tim Berners-Lee. Das geht so weit, dass wir nie einen Aufsichtsrat hatten, sondern Tim es war, seine Vision und seine Kontakte, die uns mit den richtigen Stellen in Verbindung gebracht haben. Im Zuge der Director-Free-Diskussionen sollen die vielen Rollen des W3C-Direktors aufgeteilt werden, und manche dieser Rollen werden durch das Board of Directors unterstützt.

Zu guter Letzt: Welche Entwicklungen im World Wide Web finden Sie derzeit spannend?

Jaffe: Es freut mich, dass Sie das fragen, da es viele Möglichkeiten gibt, die Herausforderungen des bestehenden Web zu bewältigen und eine bessere Zukunft dafür zu schaffen. Wir nehmen das Web nicht als gegeben hin. Es kann mehr leisten. Es kann noch mehr sein. Wir haben das während der Pandemie gesehen, als die Welt plötzlich "virtuell" wurde und es die Webtechnologien waren, die die Durchführung vieler Aktivitäten weltweit ermöglichten.

Um den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, wird es eine gemeinsame Anstrengung brauchen, um sicherzustellen, dass das Internet für Menschen auf der ganzen Welt zugänglicher und sicherer wird und als Motor für das Wachstum in wichtigen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft dienen kann.

Wir müssen nicht nur die unzähligen Kerntechnologien des Web auf dem aktuellsten Stand halten, sondern auch unsere Bemühungen um die Technologien verstärken, die den Übergang zu mehr Virtualität ermöglichen, zum Beispiel Web Real Time Communications (WebRTC). Unsere 350 Community-Gruppen entwickeln unentwegt neue Technologien in verschienenen Bereichen wie Virtual Reality, dem Metaverse, der Interoperabilität von hybriden (nativen/webbasierten) Anwendungen sowie für ein dezentraleres Web. Wir arbeiten an Technologien, die auf die Bedürfnisse einer sich wandelnden Gesellschaft eingehen, einschließlich Fragen des Datenschutzes, der Werbung im Web, Smart Cities, sicherer Zahlungen und der Automatisierung.

In einer immer stärker global vernetzten Welt sorgen wir dafür, dass das Web für Zeichensätze und Verleger in der ganzen Welt funktioniert. Wir erwägen, am Thema "finanzielle Inklusion" zu arbeiten, um das Web für Menschen ohne Bankkonto besser nutzbar zu machen. Wir gehen auf branchenspezifische Bedürfnisse ein – wie die Tatsache zeigt, dass wir in diesem Jahr unseren dritten Emmy-Award in sieben Jahren gewonnen haben.

Schließlich unterstreichen die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verschiebungen der letzten zwei Jahre die Wichtigkeit webbasierter Technologie und Dienste. Sie haben die Notwendigkeit allgemein akzeptierter technischer Spezifikationen, Leitlinien und Webstandards deutlich gemacht. Wir müssen anerkennen, dass das Web sowohl die schnelle Verbreitung wichtiger Informationen ermöglicht, aber leider zugleich auch Kanäle zur Verbreitung von Fehlinformationen schafft. Wir müssen verstehen, dass das Web einerseits der ultimative Beschleuniger von Wirtschaft und Handel ist, durch seine Allgegenwart aber zugleich auch missbräuchlich verwendet werden kann. All das zwingt uns zu anhaltender und erhöhter Wachsamkeit, um sicherzustellen, dass eine der größten Errungenschaften der Menschheit nicht denjenigen zum Opfer fällt, die seine enorme Macht für falsche Zwecke missbrauchen wollen.

Das Interview wurde schriftlich geführt und aus dem Englischen übersetzt.

(rme)