Polio-Alarm jetzt auch in New York​

Das Kinderlähmungsvirus wurde nicht nur in Londoner Abwässern, sondern auch in den USA und Israel aufgespürt. Welche Impfung kann die Transmission unterbinden?​

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Auch gegen Polio hilft inzwischen eine Spritze.

(Bild: Andrey_Popov/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
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Das Problem ist noch größer als gedacht. Das eigentlich ausgerottete Polio-Virus, das Lähmungen auslösen kann, wurde nicht nur im Abwasser von London gefunden. Auch die Klärwerke von fünf Countys im US-Bundesstaat New York inklusive Big Apple selbst haben es schon aufgespürt. Gouverneurin Kathy Hochul rief angesichts dieser weiträumigen Verbreitung des Virus am 9. September den Infektions-Ausnahmezustand aus – und Ungeimpfte dazu auf, sich gegen Polio immunisieren zu lassen.

Die Funde bedeuten nämlich, dass der Erreger der Kinderlähmung aktiv neue Menschen ansteckt, die dann das Virus ausscheiden, was sich wiederum im Abwasser nachweisen lässt. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verläuft die Krankheit in 90 Prozent der Fälle mild. Erkrankte, zu denen auch Erwachsene gehören können, haben dann nur Magenbeschwerden. Springt das Virus aber auf das Nervensystem über, kann es zu unumkehrbaren Muskellähmungen bis hin zu einer tödlichen Lähmung der Atemmuskulatur kommen.

In Rockland County im Bundesstaat New York war tatsächlich im Juli ein 24-jähriger Mann schwer an Polio erkrankt und laut Medienberichten durch die Infektion gelähmt. Es war der erste Polio-Fall in den Staaten seit über zehn Jahren. Auch Israel hatte im März Polio-Virus-Funde in mehreren Klärwerken sowie einige erkrankte Kinder gemeldet.

Die neuen Fälle haben viele überrascht. Für Forscher des öffentlichen Gesundheitswesens, die das Virus endgültig eradizieren wollen, waren sie dagegen nur eine Frage der Zeit. In einer eng vernetzten Welt hat sich die schon weitgehend eingehegt geglaubte Krankheit offenbar ausgerechnet über einen der Impfstoffe einen Weg zurück gebahnt. Das Wild-Virus kursiert trotz Impfbemühungen nämlich nur noch in Afghanistan und Pakistan.

Die Theorie: Die abgeschwächten Polio-Erreger der Original-Schluckimpfung gewannen durch Mutationen ihre Vermehrungsfähigkeit wieder zurück und steckten dann ungeimpfte Menschen an. Diese Schluckimpfung wird in Europa und den USA mittlerweile – auch aufgrund dieser Gefahr – nicht mehr verwendet. In afrikanischen und asiatischen Ländern kommt sie aber noch zum Einsatz, weil sie sich so leicht geben lässt. Zum Nachteil des Mutationsrisikos kommt nämlich ein großer Vorteil: Die Impfung sorgt in der Darmschleimhaut für eine nahezu komplette sterile Immunität. Das heißt, die Viren lösen keine Infektion, also auch keine Weitergabe neuer Viren aus, selbst wenn man Polio über eine Schmierinfektion wieder aufnehmen sollte.

Bei der neueren, injizierbaren Polio-Impfung besteht hingegen kein Mutationsrisiko, da sie auf inaktivierte Viren setzt. Allerdings hat diese systemische Immunisierung insgesamt einen geringeren Effekt. Man erkrankt zwar nicht symptomatisch, infiziert sich aber unter Umständen trotzdem, produziert neue Viren und gibt sie weiter. Die intramuskuläre Impfung schützt also nur Geimpfte, nicht aber die Menschen um sie herum – diesen Effekt kennen wir zu Genüge vom Coronavirus Sars-CoV-2.

Die US-Gesundheitsbehörden setzen nun daher verstärkt auf Abwasser-Überwachung, mit der sie erst nach den Londoner Funden angefangen hatten. Anders als in London scheint der Polio-Ausbruch im US-Bundesstaat New York weiter verbreitet zu sein. Die US-Behörden hoffen deshalb, dass möglichst viele Menschen ihrem Aufruf folgen und sich gegen Polio impfen oder ihre Impfung auffrischen lassen. Das würde zumindest schlimme Folgen einer Ansteckung verhindern und die Transmission des Virus etwas bremsen.

Hoffnung auf einen stärkeren Transmissionsstopp macht derweil eine neue Schluckimpfung, die in einer Phase-3-Studie in Gambia bei Kindern im Alter zwischen eins und fünf auf ihre Sicherheit getestet wird. Sie setzt zwar ebenfalls auf ein abgeschwächtes Virus. Forscher haben dieses aber in einer Art genetischen Käfig gesperrt, sagt Raul Andino-Pavlovsky von der University of California in San Francisco, der den Impfstoff mitentwickelt hat. Neue genetische Änderungen sollen ausschließen, dass der Erreger wieder vermehrungsfähig wird.

Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen und es dürften noch weitere Wirksamkeitsstudien nötig sein. Auf der Basis einer WHO-Notfallzulassung haben trotzdem bereits mehr als 100 Millionen Menschen den Impfstoff erhalten. Dabei wurden laut Andino-Pavlovsky bisher keine vermehrungsfähigen Virusvarianten entdeckt. Insgesamt erhielten 22 Länder mehr als 450 Millionen Impfdosen.

Der Einsatz vor dem Abschluss wichtiger Studien wirft Fragen auf und die Experten sind sich uneins darüber, ob dieser Weg der richtige ist. Seltene Nebenwirkungen können erst in größeren Studien aufgespürt werden, kritisierte Abdhalah Ziraba, Epidemiologe am African Population Research Center in Nairobi im Fachjournal „Nature“. Für eine Notfallzulassung fehle zudem die Dringlichkeit.

Andere Experten wie Nicholas Grassly vom Imperial College in London argumentieren jedoch, dass nur mit dem neuen Impfstoff die ständig neue Aussaat infektiöser Polio-Viren unterbrochen werden könne – und damit weitere Mutanten.

(vsz)