Tödliche "Craft Hacks": Wie eine YouTube-Bäckerin gegen gefährliche Memes kämpft

Ann Reardon verbringt ihre Zeit damit, gefährliche Aktivitäten zu entlarven, die auf YouTube viral gehen – aber der Wahnsinn ist kaum zu stoppen.

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Kolkata,,India,-,July,24,,2022:,Social,Internet,Service,Youtube

(Bild: Shutterstock.com/photosince)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Amelia Tait
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Ann Reardon ist wahrscheinlich die letzte Person, von der man erwarten würde, dass ihre Inhalte von YouTube gesperrt werden. Die ehemalige australische Jugendarbeiterin und dreifache Mutter hat ein eigenes Kochbuch geschrieben, hat für die britische BBC gebacken und einmal einen nur münzgroßen Apfelkuchen für zwei Küken produziert. Seit 2011 nutzt sie ihren YouTube-Kanal, um Millionen von treuen Abonnenten zu zeigen, wie man aufwendige Kuchen backt und dekoriert.

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Doch am 1. Juli erhielt Reardon eine E-Mail von YouTube, die besagte, dass ihr letztes Video entfernt worden sei. "Unser Team hat Ihren Inhalt überprüft und ist leider der Meinung, dass er gegen unsere Richtlinien für schädliche und gefährliche Inhalte verstößt", hieß es darin. Die E-Mail zur Löschung bezog sich auf ein Video, das nicht Reardons typische Kuchenbackkost war.

Stattdessen war das Video mit dem Titel "Debunking DEADLIEST craft hack, 34 dead" die neueste Folge einer Reihe auf Reardons Kanal. Seit 2018 hat sie ihre Plattform nämlich auch dazu genutzt, um die Zuschauer vor gefährlichen neuen "Craft Hacks" zu warnen, die auf YouTube viral gehen. Die Bäckerin hat hierzu 28 Videos hochgeladen, in denen sie unsichere Aktivitäten wie das Pochieren von Eiern in der Mikrowelle, das Bleichen von Erdbeeren und die Verwendung einer Cola-Dose und einer Flamme zum Popcornmachen anspricht.

Plötzlich war sie in die chaotische Moderationspolitik verwickelt, die YouTube schon lange plagt. Reardons Video deckte eine Schwachstelle im System auf: Wie kann eine Warnung vor schädlichen Hacks als gefährlich eingestuft werden, wenn die Craft-Hack-Videos selbst nicht gefährlich sind? Auf dem Papier verbietet die Plattform Videos, die zu "gefährlichen oder illegalen Aktivitäten aufrufen, die zu schweren körperlichen Schäden oder zum Tod führen können". Aber ist das auch in der Praxis so?

In ihrem 14-minütigen Video warnte Reardon ihre Zuschauer vor einer Basteltechnik, die tödlich sein kann, wenn sie schief geht. Beim "fraktalen Holzbrennen" wird Hochspannungsstrom über feuchtes Holz geleitet, um ein verschlungenes, astähnliches Muster in dessen Oberfläche zu brennen. Auf ihrer Website erklärt die Handwerksgruppe American Association of Woodturners, dass dieses Verfahren "ein erhebliches Risiko eines Stromschlags" birgt. In dem Video beklagt Reardon, dass auf YouTube mehrere Anleitungen zum fraktalen Holzbrennen zu finden sind, darunter auch Anleitungsvideos, die zeigen, wie man aus Teilen einer alten Mikrowelle sein eigenes fraktales Holzbrennungsgerät bauen kann.

Reardon will nicht nur das Bewusstsein schärfen – sie will, dass YouTube sich ändert. "Wenn es nach mir ginge, würde YouTube eine Richtlinie gegen gefährliche Craft Hacks und gefährliche Anleitungsvideos einführen", sagt sie am Ende eines aktuellen Videos. "Es gibt eine Richtlinie gegen gefährliche Streiche und gefährliche Challenges – warum gibt es keine für gefährliche Bastelhacks?"

YouTube teilte gegenüber MIT Technology Review auf Nachfrage mit, dass das Video von Reardon kurz nach ihrem Einspruch gegen die Sperre erneut geprüft und wieder freigeschaltet wurde. Das Unternehmen erklärte, dass es häufig Videos wieder freigibt, die fälschlicherweise entfernt wurden. Es ist jedoch unklar, warum Reardons Video gegen die YouTube-Richtlinien für gefährliche Inhalte verstoßen hat, während die Craft-Hack-Videos, vor denen sie gewarnt hat, weiterhin abrufbar waren.

Als MIT Technology Review YouTube zum ersten Mal auf dieses Problem ansprach, gab es mehr als 3.000 Google-Suchergebnisse für die Holzbrenner-Videos auf YouTube. Jetzt sind es nur noch etwas mehr als 1.000. Ein YouTube-Sprecher sagte: "Im Rahmen unserer Richtlinien für schädliche oder gefährliche Inhalte verbieten wir Inhalte, die zu gefährlichen oder illegalen Aktivitäten anregen, die zu schweren körperlichen Schäden oder zum Tod führen können." Nach einer Überprüfung habe man eine Reihe von Videos entfernt und entsprechende Altersbeschränkungen auf Inhalte angewendet, die nicht für alle Zuschauer geeignet sind.

Am 25. Juli 2019 lud ein Twitter-Nutzer ein ungewöhnliches Video mit dem Wasserzeichen "5-Minute Crafts" hoch und teilte es. In dem 55-sekündigen Clip wurde ein Ei in ein Weinglas mit Essig gelegt. Eine Bildunterschrift wies darauf hin, einen Tag zu warten. Ein Schnitt und das Ei tauchte schließlich gelb und prall wieder auf – und die Bildunterschrift verkündete: "Größer als zuvor". Das Ei wurde dann in ein Glas mit Ahornsirup gelegt. Dann wurde es in blau gefärbtes Wasser gelegt. Wieder lautete die Beschriftung: "Warte einen Tag", gefolgt von: "Größer als zuvor".

Der Clip ging viral, erhielt 72.000 Likes auf Twitter und wurde sogar im New York Magazine veröffentlicht. Damit wurde die ganze Welt auf die Existenz solcher Craft Hacks aufmerksam. Als Erfinder solcher 5-Minute Crafts gilt ein inzwischen sechs Jahre alter YouTube-Kanal, der heute über 24 Milliarden Aufrufe zu verzeichnen hat. Fast jedes der 5-Minute-Crafts-Video ist so bizarr und absurd wie das erwähnte Ei, das größer wurde. Der Kanal zeigt Menschen, die Kontaktlinsen mit Wattestäbchen einsetzen, Äpfel mit einer Bohrmaschine schälen, behelfsmäßige Lötkolben aus Feuerzeugen basteln und Zahnpasta auf Verbrennungen auftragen (die offizielle Website von Colgate warnt inzwischen vor dieser Praxis).