Chatkontrolle: rechtswidrig und unverhältnismäßig laut Wissenschaftlichem Dienst

Die geplante SpyPhone-Verordnung der EU-Kommission ist unvereinbar mit den Grundrechten, betont der Wissenschaftliche Dienst. Sie dürfte nicht in Kraft treten.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 71 Kommentare lesen

(Bild: ravipat/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Der Verordnungsvorschlag der EU-Kommission zum Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern im Internet sieht "unverhältnismäßige Eingriffe" in die verbrieften Grundrechte der EU-Bürger vor und wäre hierzulande voraussichtlich verfassungswidrig. Dies schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags in einer jetzt bekannt gewordenen Analyse des seit Monaten umstrittenen Gesetzesentwurfs.

"Der Schutz vor sexuellem Missbrauch an Minderjährigen im Internet wird immer wichtiger", heißt es in der vom Portal Netzpolitik.org vorab veröffentlichten Untersuchung. Das Internet beziehungsweise Messenger-Dienste nähmen im Leben von Jugendlichen eine immer größere Rolle ein, sodass auch die damit verknüpften Gefahren für diese anstiegen. Es sei aber schon fraglich, ob die Initiative "für das bezweckte Vorhaben überhaupt einen Mehrwert darstellt". So werde in der rechtswissenschaftlichen Literatur etwa bereits bezweifelt, ob die einschlägigen Chat-Dienste bislang überhaupt "eine tragende Rolle bei der Verbreitung kinderpornographischer Dateien gespielt haben".

Vor dem Hintergrund der bisherigen Linie des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) etwa zur Vorratsdatenspeicherung gehen die Gutachter davon aus, dass an die geplante Verordnung "hohe Anforderungen zu stellen sind" und der Entwurf "in seiner aktuellen Fassung so nicht in Kraft treten dürfte". Es erscheint unwahrscheinlich, dass eine grundsätzliche Überwachung von Individualkommunikation der Überprüfung der Grundrechte standhalten würde. Zudem wäre eine Ausweitung des Instruments auch auf andere Bereiche "möglich und zu befürchten".

Die für den Bereich Kultur und Medien zuständigen Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Dienste haben das Vorhaben an den Artikeln der EU-Grundrechtecharta zur Achtung des Privat- und Familienlebens, zum Schutz personenbezogener Daten sowie zur Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit gemessen. Sie führen dabei schwerwiegende Bedenken rund um die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Vorschlags ins Feld.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Umfrage (Opinary GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Opinary GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Mit dem Entwurf könnten auch Anbieter durchgängig verschlüsselter Messaging- und anderer Kommunikationsdienste wie WhatsApp, Apple, Signal und Threema über behördliche Anordnungen dazu verpflichtet werden, Fotos und Videos von Kindesmissbrauch in den Nachrichten ihrer Nutzer ausfindig zu machen und die private Kommunikation flächendeckend zu scannen. Dies führt laut den Bundestagsexperten "zu einem weiteren, schweren Eingriff und damit faktisch zur Abschaffung einer vertraulichen Kommunikation".

Dafür nötig sei "eine Abschaffung oder zumindest Schwächung der Verschlüsselung", zitieren die Verfasser datenschutzrechtliche Einschätzungen. Dies würde auch Dritten die Kenntnisnahme von Kommunikationsinhalten ermöglichen. Denkbar sei auch ein Client-Side-Scanning, das die Kommission implizit vorschlage. Dieser Ansatz brächte "kodifizierte, werksseitige Hintertüren in die genutzten Geräte mit sich, die Dritte wiederum ausnutzen könnten.

Auch die in dem Entwurf enthaltenen Passagen zum Heranpirschen potenzieller Täter an Kinder (Cyber-Grooming) brächten "nicht nur Vorteile für die Minderjährigen mit sich", ist der Kurzstudie zu entnehmen. Das Vorhaben könne auch das Kommunikationsverhalten der Minderjährigen einschränken. So sei es etwa denkbar, dass selbst einvernehmliches "Sexting" mit dem Austausch erotischer Aufnahmen und Texte zwischen Heranwachsenden Strafverfolger auf den Plan rufe. Generell wirke sich eine Zurückhaltung bei legalen Äußerungen oder Handlungen aus Angst vor deren Kenntnisnahme durch den Staat oder Dritte intensiv auf Meinungs- und Pressefreiheit aus.

Bei allein über WhatsApp täglich rund 100 Milliarden verschickten Nachrichten würde selbst eine extrem niedrige, von der Kommission anhand unbelegter Behauptungen ins Feld geführte Fehlerquote bei den automatischen Erkennungssystemen von 0,1 Prozent zu einer extrem hohen Zahl an zu überprüfenden Fällen und möglichen falschen Verdächtigungen führen, lässt sich in dem Papier nachlesen. Microsoft etwa berichte beim Aufdecken von Grooming von einer Fehlerrate von 12 Prozent. Die Schweizer Bundespolizei gebe eine Trefferquote von nur 14 Prozent bei der maschinellen Bilderkennung bekannter Kindesmissbrauchsdarstellungen an. Die von der Verordnung geforderte Suche nach unbekannten Bildern und Videos sei "erwartbar noch erheblich ungenauer".

Insgesamt bedarf es den Gutachtern zufolge im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens "weiterer Anstrengungen, um das wichtige Ziel des Kindesschutzes realisieren zu können, ohne die Grundsätze der Verschlüsselung von individuellen Messenger-Nachrichten aufzugeben". Die Digitalexperten der Linksfraktion, Anke Domscheit-Berg, die die Analyse in Auftrag gab, sprach von einem "vernichtenden Fazit". Nun müsse endlich die gesamte Bundesregierung einschließlich der Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die Chatkontrolle als "gefährlichen Holzweg" erkennen und die Initiative in Brüssel verhindern.

Schon vor einem Jahr schlugen 20 EU-Abgeordnete unter Verweis auf eine frühere Analyse des Wissenschaftlichen Diensts Alarm: Die vorgesehene massive Überwachung privater Korrespondenz führe "zu weit verbreiteter Unsicherheit, Misstrauen und Unruhe unter Bürgern und Unternehmen", bevor sie höchstwahrscheinlich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Lichte seiner Rechtsprechung annulliert werde. Die Anspielung auf eine "latente Dauergefahr" der Begehung auch schwerwiegender Straftaten "dürfte zur Rechtfertigung einer ständigen und umfassenden automatisierten Analyse wohl nicht genügen".

(tiw)