Chatkontrolle: EU-Kommissarin bĂĽgelt Kritik von Abgeordneten ab
Auf dem heiĂźen Stuhl im EU-Parlament lieĂź EU-Innenkommissarin Ylva Johansson zur potenziellen Ăśberwachung auch verschlĂĽsselter Nachrichten viele Fragen offen.
Unverhältnismäßig, ineffektiv, falsche Rechtsgrundlage und Türöffner für das Aushebeln von Verschlüsselung und Massenüberwachung: EU-Innenkommissarin Ylva Johansson musste sich am Montag zur Präsentation ihres umstrittenen Verordnungsvorschlags zum Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch im Internet im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des EU-Parlament Bedenken der Abgeordneten anhören. Johansson antwortete vielfach aber gar nicht oder ausweichend und versuchte so offenbar, die massive Kritik weitgehend an sich abperlen zu lassen.
Patrick Breyer (Piratenpartei), Clare Daly (Linke) und Jan-Christoph Oetjen (FDP) monierten etwa, dass mit dem Entwurf auch Anbieter durchgängig verschlüsselter Messaging- und anderer Kommunikationsdienste wie WhatsApp, Apple, Signal und Threema dazu verpflichtet werden könnten, Fotos und Videos von Kindesmissbrauch in den Nachrichten ihrer Nutzer ausfindig zu machen und die private Kommunikation flächendeckend zu scannen. Ein solches Überwachungssystems verstoße gegen grundlegende Menschenrechtsprinzipien und sei nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vereinbar.
EU-Kommissarin: Konzerne scannen seit Jahren freiwillig
Johansson antwortete knapp mit dem Hinweis, die Europäische Grundrechteagentur habe für ihren Bereich keinen potenziellen Verstoß ausgemacht. Konzerne wie Meta mit Facebook, Google und Microsoft scannten Chats freiwillig bereits seit rund zehn Jahren auf Darstellungen sexueller Gewalt. Diese Praxis solle mit den geplanten EU-Vorgaben nun restriktiver gefasst werden. Andere Diensteanbieter könnten zudem künftig gezwungen werden, solche Inhalte aufzuspüren.
Ob WhatsApp & Co., die auf Ende-zu-Ende-Verschlüsselung setzen, aktuell Missbrauchsmaterial ausfindig machen könnten, "wissen wir nicht", erklärte die Kommissarin. Letztlich wäre dies wohl nur mit Malware wie Spionagetrojanern möglich. Deren Einsatz sei in der Regel illegal. Die Exekutivinstanz gehe daher auf Verschlüsselung nicht ein, schließe andererseits aber auch keine Detektionstechnologie explizit aus. Wenn es keine mit dem EU-Recht inklusive der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und der E-Privacy-Richtlinie vereinbare technische Lösung gebe, greife die Pflicht nicht.
Eingaben bislang "nicht so gut"
Vor dem Erlass einer Aufdeckungsanordnung durch eine "unabhängige Stelle" wie ein nationales Gericht müssten ein neues EU-Zentrum und Datenschutzbehörden einbezogen werden, verwies Johansson auf weitere Klauseln zum Absichern der Privatsphäre. Derzeit gebe etwa Facebook alle "Treffer" an das National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) in den USA weiter, sodass dieses allein in diesem Jahr bereits vier Millionen Videos und Fotos mit EU-Bezug gemeldet habe.
Bisher seien diese Eingaben "teils qualitativ nicht so gut", räumte die Politikerin ein. Künftig werde das geplante, mit "Sachverständigen" besetzte und mit der Zivilgesellschaft kooperierende Zentrum diese Resultate filtern und beim "Fine-Tuning" der eingesetzten Werkzeuge etwa durch die Prüfung von Hashes und Klassifizierungsmerkmalen helfen, um falsch-positive Treffer zu vermeiden. Generell schätzte sie die Genauigkeit der derzeit verwendeten Scanner als "recht gut" ein: Die Fehlerquote liege teils bei "0,1 Prozent der nicht gehashten", also noch nicht bekannten Inhalte, stützte sie sich erneut auf unbelegte Angaben der US-Organisationen Thorn und Safer, die der Schauspieler Ashton Kutcher mitgegründet hat.
Besteht Grund zur Eile?
Zugleich mahnte Johansson zur Eile, da eine Interimsbefugnis zum freiwilligen Scannen einschlägiger Darstellungen im Sommer 2024 auslaufe. In diesem Fall könnten die Unternehmen nicht einmal mehr Tools nutzen, um das Heranpirschen potenzieller Täter an Kinder (Cyber-Grooming) zu stoppen. Breyer hält dem entgegen, dass die Ausnahmeverordnung einfach verlängert werden könnte, ohne alle Anbieter zu verpflichten.
Sozialdemokraten wie Paul Tang und Birgit Sippel begrüßten zwar prinzipiell, dass die Kommission prioritär gegen sexuellen Kindesmissbrauch vorgehen wolle. Sie vermissten aber ebenfalls die Ausgewogenheit des Vorschlags sowie Anreize, mit denen Kinder lernten, inakzeptable Angebote im Netz abzulehnen. Zudem habe auch der Nachwuchs ein Recht auf Privatsphäre. Die Volksvertreter seien mit dafür da, einen ausbalancierten Kompromiss zu finden, hielt Johansson dagegen. Nur Javier Zarzalejos von der konservativen Europäischen Volkspartei betonte, er hätte sich den Entwurf schon früher gewünscht.
Kritik in einem offenen Brief
Parallel haben rund 25 zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Kritik an dem Vorhaben der Kommission in einem offenen Brief untermauert. "Der Verordnungsvorschlag der EU ist ein Angriff auf unsere Freiheitsrechte und nimmt uns die Möglichkeit, selbstbestimmt über unser Leben mit Technik zu entscheiden", warnen die Unterzeichner. "In Zukunft sollen Behörden unsere Familienchats kontrollieren und entscheiden, welche Apps wir installieren können." Ende-zu-Ende-Verschlüsselung werde untergraben.
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"Eine technische Umsetzung des Gesetzes ist nur durch den Aufbau einer beispiellosen und undurchsichtigen Überwachungsinfrastruktur möglich, die nicht demokratisch kontrollierbar ist", befürchtet das Bündnis. Ihm gehören der Chaos Computer Club (CCC), Digitalcourage, der Verein Digitale Gesellschaft, das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FifF), die Gesellschaft für Informatik, die parteinahen Vereinigungen D64 und Load, Reporter ohne Grenzen, Algorithmwatch und der Betroffenenverband Mogis an.
Die Chatkontrolle gefährde insbesondere Personen und Organisationen, die vorrangig auf vertrauliche Kommunikation angewiesen seien, wie Berufsgeheimnisträger und Aktivisten. Mehrere der Briefschreiber appellierten auch an die Bundesregierung, dass sie bei ihrem Widerstand nicht einknicken dürfe. Vor allem das federführende Bundesinnenministerium müsse entschieden "gegen die dystopischen Pläne" eintreten.
Ablaufdatum Interimsbefugnis zum Scannen korrigiert.
(mki)