Was passiert mit unserer digitalen Geschichte, wenn Twitter zusammenbricht?

Twitter ist als Plattform auch ein digitaler Zeitzeuge der Menschheitsgeschichte geworden. Ein potenzieller Zusammenbruch wirft Fragen zur Archivierung auf.

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(Bild: Ascannio/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Chris Stokel-Walker

Fast seit dem ersten Tweet im Jahr 2006 spielt Twitter eine wichtige Rolle im Weltgeschehen. Die Plattform wird genutzt, um alles vom Arabischen Frühling bis zum aktuellen Krieg in der Ukraine aufzuzeichnen. Auch unsere öffentlichen Unterhaltungen werden seit Jahren auf Twitter festgehalten.

Experten sind jedoch besorgt, dass diese reichhaltigen Medien- und Gesprächsinhalte für immer verloren gehen könnten. Nämlich dann, wenn Elon Musk das Unternehmen aufgibt. Das ist nicht nur ein theoretisches, sondern ein reales Risiko: Musk selbst gab in einer Telefonkonferenz am 10. November vor seinen Mitarbeitern zu, dass Twitter der Bankrott drohe, falls es nicht gelinge, die großen Verluste zu minimieren und profitabel zu werden.

Der neue Twitter-Besitzer räumt gleichzeitig ein, dass Twitter ein öffentliches Forum ist, und genau diese Tatsache macht den potenziellen Verlust der Plattform so bedeutsam. Twitter mag nicht das größte oder wichtigste soziale Netzwerk sein, es ist aber als Informationsmedium aus der heutigen Zivilisation nicht mehr wegzudenken. Es ist ein Ort, an dem Menschen Kriegsverbrechen dokumentieren, wichtige Themen diskutieren und über Nachrichten berichten.

"Wenn Twitter morgen verschwinden würde, gingen mit der Plattform all diese Beweise aus erster Hand über Gräueltaten oder potenzielle Kriegsverbrechen einfach verloren", sagt Ciaran O'Connor, leitender Analyst beim Institute for Strategic Dialogue (ISD), einer globalen Denkfabrik. Informationen, die mit Hilfe von Open-Source-Intelligence (OSINT) gesammelt werden, wurden bereits zur Unterstützung der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen verwendet und dienen als Aufzeichnung von Ereignissen, lange nachdem das menschliche Gedächtnis verblasst ist.

Der potenzielle Zusammenbruch von Twitter ist auch deshalb eine besondere Herausforderung, weil der "digitale öffentliche Platz" auf den Servern eines privaten Unternehmens aufgebaut wurde, sagt O'Connors Kollegin Elise Thomas, leitende OSINT-Analystin beim ISD. Dieses Problem werden wir in den kommenden Jahrzehnten noch öfter haben, sagt sie: "Twitter ist vielleicht der erste wirklich große Test dafür, wie wir damit umgehen" Die Allgegenwärtigkeit von Twitter, seine Akzeptanz durch fast eine Viertelmilliarde Nutzer in den vergangenen 16 Jahren und sein Status als de facto öffentliches Archiv haben es zu einer Goldmine an Informationen gemacht, sagt Thomas.

"In gewisser Weise stellt dies eine enorme Chance für zukünftige Historiker dar – wir hatten noch nie die Möglichkeit, so viele Daten über eine frühere Epoche der Geschichte zu erfassen", sagt sie. Aber dieser enorme Umfang stellt Organisationen und Archive vor ein riesiges Speicherproblem.

Acht Jahre lang hat es sich die US Library of Congress zur Aufgabe gemacht, eine öffentliche Aufzeichnung aller Tweets zu führen; seit 2018 aber erfasst sie nur noch eine kleine Anzahl von Accounts. "Das hat nie funktioniert", sagt William Kilbride, Geschäftsführer der Digital Preservation Coalition. Die Daten, die die Bibliothek speichern sollte, waren zu umfangreich.

"In gewisser Weise ist Twitter zu einer Art Aggregator von Informationen geworden", sagt Eliot Higgins, Gründer des Open-Source-Recherchenetzwerks Bellingcat, das dabei half, die Täter des MH17-Absturzes vor Gericht zu bringen. "Vieles von dem, was man aus der Ukraine sieht, stammt aus Telegram-Kanälen, denen andere Leute folgen, aber sie teilen es dann auf Twitter." Twitter habe es einfacher gemacht, Inhalte aus fast jeder Nische der Welt zu kategorisieren und zu konsumieren, indem es einen Echtzeit-Nachrichten-Feed mit relevanten Informationen sowohl von großen Organisationen als auch von kleinen, unabhängigen Stimmen anzapft. Die Abwesenheit von Twitter würde sich deutlich bemerkbar machen.

Dass große Mengen von Informationen aus dem Internet verschwinden, ist nicht neu. Im Jahr 2017 wurde YouTube beschuldigt, die Untersuchungen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien zu beeinträchtigen, indem es Konten, die Videos aus syrischen Städten gepostet hatten, dauerhaft löschte. Das Unternehmen lenkte schließlich ein und erkannte die Verantwortung, die es als Anbieter hat. "Ich glaube nicht, dass das bei Elon Musk der Fall sein wird", sagt Higgins.

Dennoch sind nicht nur die OSINT-Forscher besorgt. Die momentanen Bedenken der US-Behörden über den Verlust ihres verifizierten Status unterstreicht die Tatsache, dass viele offizielle Erklärungen von Regierungen und öffentlichen Einrichtungen mittlerweile zuerst auf Twitter veröffentlicht werden, die Plattform also gewissermaßen ein Teil der Öffentlichkeitsarbeit ist. "Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese offiziellen Aufzeichnungen jemals archiviert wurden", sagt William Kilbride.

Nun könnten natürlich Nutzerinnen und Nutzer versuchen, ihre Daten selbst zu sichern. Das Internet Archive wiederrum könnte, wie bereits bei Websites, regelmäßig Schnappschüsse von Twitter-Profilen anfertigen und diese dauerhaft an einem zuverlässigeren Ort speichern, losgelöst von den offiziellen Servern. Beide Methoden sind jedoch nicht unproblematisch: Multimediainhalte wie Fotos und Videos werden bei der Archivierung von Tweets häufig ignoriert – was sich etwa auf die große Anzahl von Konten auswirken würde, die Bilder und Videos von der iranischen Revolution posten oder die russische Invasion auf Twitter dokumentieren. Und der Zugriff auf die Informationen erfordert die Kenntnis der genauen URL eines bestimmten Tweets. "Es könnte schwierig sein, diese zu finden, wenn sie nicht bereits irgendwo anders im Internet gespeichert ist", sagt Higgins.

Einige Nutzer verlassen sich auf Dienste von Drittanbietern, die in der Regel dazu dienen, lange Twitter-Threads besser zu entziffern, wie etwa Thread Reader. Aber der Versuch, diese in komplette Archive zu verwandeln, ist auch keine ideale Lösung. "Die Unternehmen, die hinter diesen Diensten stehen, sind mit Sicherheit kleiner und vergänglicher als Twitter selbst, und es gibt keinen wirklichen Grund zu glauben, dass die Inhalte dort für immer erhalten bleiben. Zumal deren Geschäftsmodell mit dem Verschwinden von Twitter ebenfalls wegfällt", sagt Elise Thomas.

"Es gibt eine schöne Möglichkeit, die Lichter auszuschalten", plädiert Kilbride, der fordert, dass Musk im Falle eines Untergangs von Twitter nicht sofort den Stecker zieht. "Eine kontrollierte, strukturierte Schließung des Dienstes ist dem Chaos, das wir jetzt haben, vorzuziehen", sagt er. Ansonsten drohe die Gefahr, eine Menge unserer digitalen Geschichte zu verlieren.

(jle)