Kommentar: Noch ist Twitter nicht verloren

Trotz der Übernahme durch Musk hat sich Twitter nicht in den siebten Kreis der Hölle verwandelt, staunt Axel Kannenberg. Anlass zur Sorge sieht er aber auch.

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(Bild: Sergei Elagin/Shutterstock)

Lesezeit: 3 Min.

Wie man in den letzten Wochen und Monaten Presseberichten und Kommentaren entnehmen konnte, muss es Satan, Hitler und Stalin irgendwie gelungen sein, einen Sohn namens Elon Musk zu zeugen, der vergangenen Herbst Twitter aufgekauft hat. Und seitdem solle sich dieser Dienst in einen Pfuhl des Hasses und der Niedertracht verwandelt haben. Frei nach Shakespeare: Die Hölle ist leer, alle Teufel sind jetzt auf Twitter.

Ein Kommentar von Axel Kannenberg

Axel Kannenberg durchforstet seit 2012 für heise online die unendlichen Weiten des Internets nach News, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Beherrscht die edle Kunst des Beleidigungsfechtens. Hat 2013 einen Döner für umgerechnet mehrere Tausend Euro genossen (nach heutigem Bitcoinkurs).

Nur meine Timeline ist offenbar auf magische Weise davor geschützt. Auf die viel beschworene Druckbetankung mit Pech, Schwefel und Verdammnis warte ich immer noch; stattdessen bekomme ich jeden Tag unverändert frische News, interessante Hinweise und kluge Gedanken in Timeline und Listen geliefert. Zusammen mit einem gut gepflegten RSS-Reader ist Twitter nach wie vor das Tool der Wahl für mich, um als Onlinejournalist auf der Höhe des Nachrichtengeschehens zu stehen.

Sicher, wenn man wie ich nichts mehr postet, dann suchen sich die seit ewig auf Twitter umhergeifernden Hobby-Inquisitoren eben lohnendere Ziele, die sie auf dem Marktplatz verbrennen können. Und die schon immer dysfunktionale Moderation habe ich längst in eigene Hände genommen – und dafür konsequent alle aktivistisch überspannten Politpomeranzen aus der Timeline verbannt und für mich weggeblockt. Egal, ob sie rechts, links, kreuz oder quer stehen – Hauptsache, sie sind mir aus der Sonne. Mögen sie auf Mastodon nach Herzenslust "Volksfront von Judäa" vs. "Judäische Volksfront" nachspielen.

Mit allen, die gerne auf Twitter bleiben wollen, teile ich natürlich die Sorge, was aus diesem tollen globalen Nachrichtenticker bloß werden soll. Diese Bedenken hatte ich allerdings auch schon vor Musk, denn unter all den US-Techriesen war Twitter eigentlich immer der wachstumsgehemmte Turnbeutelvergesser. Den unglaublichen Erfolg, den Facebook/Meta und Google/Alphabet mit ihren werbefinanzierten Diensten einfahren konnten und erfolgreich zur Expansion nutzten, hat Twitter nie replizieren können. Außer dem Kurznachrichtendienst hat man keine weiteren Standbeine hinbekommen, Versuche wie Periscope und Vine sind Geschichte. Andere Geschäftsmodelle außerhalb der Werbung? Dumdidum.

Die Hoffnung, dass Musk nicht nur ein Waschbecken, sondern auch kühle kaufmännische Vernunft und erfrischende Ideen in den lahmen Hippieladen trägt, hat sich bisher leider nicht erfüllt. Erratisch ist noch eine überaus freundliche Charakterisierung seiner bisherigen Unternehmensführung.

Mit dem neu angekündigten Abomodell schöpfe ich zumindest wieder ein wenig Hoffnung, dass da noch mehr kommt. Ein soziales Netzwerk, das seine Nutzer wie Kunden behandelt, statt wie Datenvieh, wäre ein vielversprechender Anfang.

Da sich ja eh fast nur Journalisten und andere Digital-Berufswichtigtuer hier rumtreiben, die Twitter auch noch für "die Öffentlichkeit" halten – warum nicht mehr kostenpflichtige Features für diese Zielgruppe? Ich hätte ja gerne was, mit dem sich wirklich effektiv Listen mit vielen Accounts verwalten lassen. Oder, wenn ich mal träumen dürfte, einen linuxnativen Client mit fein granulierbarer Konfiguration der Desktop-Notifications. Dafür würde ich sogar in Dogecoins zahlen. Also, lieber Elon Musk: keine Leute entlassen, weniger twittern und mehr liefern.

(axk)