Meinung: Warum die E-Patientenakte nicht gesünder macht und Vertrauen verspielt

Die E-Patientenakte für alle und der Zwang zur Anbindung an die Telematikinfrastruktur sind nicht vertrauensfördernd, meint Psychiater Dr. Andreas Meißner.

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(Bild: Marko Aliaksandr/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Dr. Andreas Meißner
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Manchmal frage ich mich, wie wir bisher Patienten behandelt haben – ohne elektronische Patientenakte (ePA), ohne E-Rezept und ohne elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Die Zufriedenheit mit dem deutschen Gesundheitswesen war bisher eigentlich groß. Das System wird mit der ePA und der Telematikinfrastruktur (TI), dem dafür nötigen Datennetz, nicht besser. Kollegen, die sich meist nur an die TI angeschlossen haben, um ansonsten erfolgende Honorarabzüge zu vermeiden, klagen über gebremste Abläufe und abstürzende Programme. Ein Mehrwert ist nicht erkennbar. Die Einführung unter Zwang hat zudem viel Vertrauen zerstört.

Ein Kommentar von Dr. Andreas Meißner

Dr. Andreas Meißner ist seit mehr als 20 Jahren niedergelassener Psychiater in München und Psychotherapeut. Er hat vielfach zur ökologischen Krise, vor allem aber zu Fragen rund um die TI und die ePA publiziert. 2020 hat er für das Bündnis für Datenschutz und Schweigepflicht (BfDS) eine Petition gegen den Zwang zum Anschluss an die TI und gegen die zentrale Speicherung der ePA-Daten vor dem Petitionsausschuss des Bundestags in Berlin vertreten.

Aus der Ärzteschaft hatte niemand nach TI und ePA gerufen, denn eigentlich haben wir ganz andere Sorgen. Medizinische Fachangestellte sind kaum zu finden, Pflegepersonal sowieso nicht, viele Klinikbetten bleiben daher unbelegt. Auch der Ärztemangel spitzt sich immer weiter zu. Ein Drittel der niedergelassenen Ärzte ist älter als 60 Jahre – viele hören wegen des Ärgers um die TI jetzt vorzeitig auf. Das wird die Versorgung verschlechtern, was auch die Telemedizin nicht ausgleichen kann.

Außerdem ist es sinnvoll, im Gespräch mit dem Patienten die Vorgeschichte zu erheben – schließlich entsteht dabei die therapeutische Beziehung. Ein Notfalldokument mit Angaben zu Krankheiten, Medikamenten und Allergien wäre, auch im Notfall, hilfreicher als dann noch PINs oder Passwörter erfragen zu müssen. Und schwere Mappen mit Röntgenbildern muss im Zeitalter von CDs schon lange niemand mehr schleppen. In der ePA aber können die Bilder nicht im Standard-Format gespeichert werden und sind damit kaum verwendbar.

Forschungsstandards wiederum drohen sich durch Big Data eher zu verschlechtern, weil aus den Daten herausgelesene Korrelationen nicht zwingend eine Kausalität bedeuten. Darauf weisen Vertreter der evidenzbasierten Medizin hin, etwa der ehemalige wissenschaftliche Vorstand der Cochrane Deutschland Stiftung, Medizinstatistiker Professor Gerd Antes. Zudem sind die ePA- und Abrechnungsdaten nicht von hoher Qualität, da sie eher auf Verordnung und Abrechnung ausgelegt sind als auf Weiterverwendung in Studien.

Patienten wiederum haben bisher wenig Interesse an der ePA. Über zwei Jahre nach ihrer Einführung haben nicht einmal ein Prozent der Versicherten sie bei ihrer Kasse beantragt. Offenbar fehlt die Begeisterung dafür, sonst wäre die Nachfrage sicher größer, trotz umständlicher Beantragung. Jetzt aber sollen die Bürger zur ePA gezwungen werden. Auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums wird zwar weiterhin betont, es sei eine Versicherten-geführte Akte. Deren Nutzung sei freiwillig, Versicherte dürften von Anfang an entscheiden, welche Daten gespeichert werden und wer zugreifen dürfe. Die Staatssekretärin des Ministeriums aber hat schon im November die Einführung einer vierstufigen Opt-Out-Lösung angekündigt.

Dann bekommen bei fehlendem Widerspruch alle Bürger eine ePA geschaltet und das schon ab Geburt. Ärzte, Therapeuten und Kliniken werden zur Befüllung verpflichtet, jeder Behandelnde soll dann grundsätzlich alle Befunde sehen können. Die ePA-Daten, in die auch Krankenhaus- und Genomdaten fließen sollen, würden dann automatisiert an das Forschungsdatenzentrum (FDZ) weitergeleitet. Seit Kurzem erhält das FDZ quartalsweise schon unsere Abrechnungsdaten aus den Praxen, hier gar ohne Widerspruchsmöglichkeit für Patienten. Die soll es wohl auch nicht geben für Datenlieferpflichten an den Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS), wie die EU-Kommission derzeit plant.

Mit solchem Zwang und unüberschaubarer Datenweiterleitung wird auch hier Vertrauen verspielt. Eine aktuelle Umfrage, die einen hohen Zuspruch zur Opt-Out-Lösung signalisiert, gibt ein verzerrtes Bild wieder, da sie rein statistisch eher Gesunde als schwer und chronisch Kranke erreicht. Mit-Auftraggeber der Umfrage war im Übrigen die Bertelsmann-Stiftung; die Konzern-Tochter Arvato Systems aber ist zuständig für den technischen Betrieb der TI.

Wir sehen daher die Schweigepflicht massiv gefährdet. Etliche Industrieverbände haben bereits Interesse an den Daten angemeldet. Gesundheitsminister Lauterbach will die ePA ausdrücklich dafür öffnen. Nicht immer aber lässt sich Forschung von Privatwirtschaft trennen, die ihrerseits an Profilbildung, Werbung und Produktabsatz interessiert ist. Ärzte, Therapeuten und Patienten werden so zu Datenlieferanten. Umso mehr, wenn auch eine Beschlagnahmung von ePA-Daten durch Polizei und Justiz möglich ist. Ein Schutz davor war zwar für die elektronische Gesundheitskarte geregelt worden, für die ePA bisher aber nicht.

Dazu kommen noch mögliche Cyberangriffe und Datenlecks. Aktuell waren mit Bitmarck und Adesso zwei an der elektronischen Patientenakte beteiligte Firmen betroffen. Andere im Gesundheitswesen aktive IT-Firmen hat es ebenso schon erwischt (beispielsweise die CompuGroup Medical und Medatixx). Und aus dem Ausland treffen fast täglich Nachrichten von undicht gewordenen elektronischen Patientenakten ein.

Es erstaunt schon, mit welch naiver Digitalisierungsgläubigkeit hier hochkomplexe – und zudem milliardenteure – IT eingeführt wird. Andere Probleme in diesem Zusammenhang, etwa Chipmangel, Energieverbrauch und Klimawandel? Für das Gesundheitswesen offenbar nicht relevant. Auch hier im Übrigen weiter Symptom- statt Ursachenbekämpfung – man kann bei Hitze dann ja mittels ePA-Daten gefährdete Menschen ans Trinken erinnern. Insgesamt aber entsteht eine gefährliche Abhängigkeit von Technik, und von Spezialisten, die es wie andere Fachkräfte auch nicht ausreichend gibt. IT-Hotlines sind meist schwer erreichbar und häufig überfordert, viele Praxen erleben das tagtäglich.

Sie arbeiten heute schon oft papierlos. Und ja, ein sicherer digitaler Datenaustausch zwischen Behandelnden oder mit Patienten wäre durchaus sinnvoll. Nicht aber die Etablierung von Technik um jeden Preis – während einige meiner Patienten nicht mal die Zuzahlung bei ihren Rezepten zahlen können, und arm sein oder reich immer noch entscheidend ist für krank sein oder gesund. TI und ePA ändern daran nichts. Sie sollen in erster Linie Daten generieren. Das ist nicht unsere ärztliche Aufgabe, weshalb viele Kollegen wie auch ich TI und ePA weiter kritisch sehen. Ich sehe mich darin bisher von allen Patienten bestätigt. Zumindest dieses Vertrauen bleibt erhalten.

(mack)