Studie: Rund um die Chip-Produktion fehlen derzeit 62.000 Fachkräfte

Hierzulande kann jede zweite offene Stelle in Bereichen, die für die Halbleiterindustrie besonders relevant sind, nicht besetzt werden. Frauen werden gesucht.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 63 Kommentare lesen

(Bild: Dragon Images/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
Inhaltsverzeichnis

Der Fachkräftemangel wirkt sich auch auf die Chip-Fertigung hierzulande aus. Im Jahresdurchschnitt zwischen Juli 2021 und Juni 2022 fehlten in Berufen, die für die Halbleiterindustrie entscheidend sind, rund 62.000 Spezialisten. Dies geht aus einer am Freitag veröffentlichten Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln im Auftrag des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) und des Elektronik- und Digitalverbands ZVEI hervor.

Die größte Fachkräftelücke klafft laut der Untersuchung mit Stand von Dezember 2022 in den für die Chip-Produktion entscheidenden Bereichen Elektrotechnik, Mechatronik und Softwareentwicklung. Allein hier sollen im vorigen im Jahresdurchschnitt fast 40.000 qualifizierte Experten in der Gesamtwirtschaft gefehlt haben. In den Berufen der Metallerzeugung und -bearbeitung gab es etwa 6500 Fachkräfte zu wenig, bei Maschinen- und Fahrzeugtechnikberufen waren es etwa 2500 und in technischen Forschungs-, Entwicklungs-, Konstruktions- und Produktionssteuerungssektor knapp 2700.

In der Informations- und Kommunikationstechnologie konnten fast 7000 Stellen nicht durch passend qualifizierte Arbeitslose besetzt werden. Am größten ist hier die Nachfrage nach Programmierern auf Expertenniveau, die in der Regel über einen Hochschulabschluss verfügen. Experten aus diesen Bereichen sind auch in anderen Branchen begehrt. Aussagen über die Situation isoliert für die Halbleiterbranche konnten die Forscher nicht machen.

Ein Vergleich zwischen West- und Ostdeutschland zeigt, dass zwar die meisten Fachkräfte in den alten Bundesländern gesucht werden. Die Nachfrage in den neuen ist jedoch in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Die Intensität des Mangels messen die Wissenschaftler als Anteil an offenen Stellen, für die es rein rechnerisch keine passend qualifizierten Arbeitslosen gibt, an allen offenen Plätzen ("Überhangsquote"). Sie hat sich laut der Analyse in beiden Teilen Deutschlands deutlich angenähert und lag 2022 im Westen bei 47 und im Osten bei 49 Prozent – und so inzwischen in den neuen Bundesländern sogar etwas höher. Bundesweit könne so rund jede zweite offene Stelle in einem Beruf der Halbleiterindustrie rein rechnerisch nicht durch passend qualifizierte Arbeitslose besetzt werden.

heise jobs – der IT-Stellenmarkt

Zu Arbeitsplätzen und Stellenangeboten in der IT-Branche siehe auch den Stellenmarkt auf heise online:

Potenziale sehen die Forscher – ähnlich wie die Bundesregierung – unter anderem bei der Gewinnung weiblicher Fachkräfte, einem höheren Anteil älterer Beschäftigte sowie durch Weiterbildung und Quereinsteigern. In Berufen mit einer besonders großen Lücke wie in der Elektrotechnik sei der Frauenanteil mit nur sieben Prozent besonders niedrig. Unternehmen sollten daher gezielt weitere Anstrengungen unternehmen, weibliche Beschäftigte schon in der Vorstufe als Auszubildende und Studierende für die "technischen Engpassberufe" zu gewinnen. Das Arbeitsvolumen könne hier kaum mehr durch eine Ausweitung von Teilzeitbeschäftigten erhöht werden, sondern nur durch die Einstellung neuer Mitarbeiter.

Weiteres Ziel sollte es dem IW zufolge sein, ältere Beschäftigte möglichst lange produktiv im Unternehmen zu halten. Auch eine verstärkte Ausbildungstätigkeit sei ein wichtiger Baustein, den fachlichen Nachwuchs zu sichern und "Ersatzbedarfe" aufgrund des demografischen Wandels zu kompensieren. Zusätzlich sei die Zuwanderung internationaler Fachkräfte unabdingbar. Hier spiele neben der Rekrutierung die Integration in die Firmen eine wichtige Rolle.

Die aktuelle Situation, die sich erst nach dem Abklingen der Coronapandemie erneut verschärft hat, gefährde "die digitale und grüne Transformation", gibt ZVEI-Präsident Gunther Kegel zu bedenken. Diese gelänge nur, "wenn Halbleiter etwa für neue energieeffiziente Prozesse in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen". Daher sei es nötig, schnellstmöglich weitere Fachkräfte für den Arbeitsmarkt rund um die Chip-Produktion zu aktivieren und dabei "neue Wege" einzuschlagen: Es sei an der Zeit, "stereotype Rollenbilder aufzubrechen, untypische Erwerbsbiografien anzuerkennen sowie insgesamt die berufliche Orientierung zu stärken".

"Voraussetzung für die dringend nötige Aufholjagd der Halbleiterindustrie in Europa sind attraktivere Standortfaktoren", ergänzt BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Dazu gehörten gut ausgebildete Fachkräfte für die gesamte Wertschöpfungskette der Chip-Herstellung. Angesichts des Mangels an Spezialisten sei die durch die EU angestrebte Steigerung der Produktionskapazitäten auf 20 Prozent des weltweiten Volumens bis 2030 unrealistisch. Wirtschaft und Mitgliedsstaaten müssten daher verstärkt in die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften investieren.

Ganz neu sind die Warnungen nicht: Schon 2009 prophezeite das IW, dass Deutschland auf einen dramatischen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zusteuere und bald hunderttausende Spezialisten aus den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) fehlten. Tatsächlich eingetreten sind die Prognosen nicht immer.

(mho)