Zahlen, bitte! 1270 Wegbereiterinnen der Mathematik

Gegen alle Widerstände prägten Frauen mit Haltung die Mathematik, allzu oft wurden sie dafür nicht angemessen gewürdigt. Ein Blick in die Geschichte.

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Von
  • Detlef Borchers
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Die Zahl unserer kleinen Geschichte der Mathematikerinnen im Vorfeld des internationalen Frauentages bezieht sich auf eine Statistik des "Women in Math Project". Laut der Universität Oregon haben mindestens 1270 Mathematikerinnen wichtige Beiträge zur Entwicklung der Mathematik geleistet, oftmals ohne den Ruhm, den ihre männlichen Kollegen einfuhren.

Viele von ihnen konnten bis in die 1950er-Jahre nur unter großen Widerständen forschen und lehren. Das kann man am Beispiel der deutschen Wissenschaftlerin Ruth Moufang sehen, die unter den Nationalsozialisten in der Industrie arbeiten musste, da sie ihr den Lehrauftrag aufgrund ihres Geschlechts verwehrten. Erst 1957 konnte sie in Frankfurt am Main die erste ordentliche Mathematikprofessorin lehren. Noch bekannter ist das Schicksal der wohl größten deutschen Mathematikerin Emmy Noether, die sich gegen vielfache Widerstände in der Wissenschaft behaupten und vor den Nazis flüchten musste. Doch es gibt noch frühere Beispiele.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Bereits im alten Griechenland machte sich Theano einen Namen, die als Ehefrau von Pythagoras seine Schule nach dessen Tod weiterführte. Ihr wird gemeinsam mit Pythagoras die Entdeckung der goldenen Mitte und des goldenen Rechtecks zugeschrieben. Ihr Hauptwerk "Das Leben des Pythagoras" ist allerdings verschollen. Etwas besser ist die Quellenlage bei der alexandrinischen Mathematikerin Hypatia, die um 370 nach Christus geboren und im März 415 von fanatischen Christen grausam ermordet wurde.

Fiktionale Darstellung der Hypatia aus dem Jahr 1908

Auch von ihren Schriften, einen Kommentar zum Werk von Diophantos von Alexandria und eine Schrift zu den Kegelschnitten des Appolonius von Perge ist keine erhalten geblieben. Für ihren bekanntesten Satz "Verteidige dein Recht zu denken" gibt es keinen sicheren Beleg. Belegt ist jedoch, dass sie zusammen mit ihrem Vater, dem Mathematiker Theon von Alexandria, eine Neufassung von Euklids Elementen vorlegte, von der alle heute bekannten Varianten abstammen.

Eine, die beharrlich ihr Recht zu denken verteidigte, war Elena Cornaro Piscopia (1646-1685). Die unehelich geborene Tochter eines venezianischen Adligen erhielt eine umfassende Ausbildung in acht Sprachen und spielte acht Instrumente. Ihr Vater, der sie als Wunderkind präsentierte, schickte sie zum Studium an die Universität Padua. Dort sollte sie auf sein Drängen hin in Theologie promovieren, was von der Kirche abgelehnt wurde, weil dies mit der kirchlichen Lehrerlaubnis gekoppelt war. Frauen aber haben in der Kirche zu schweigen, meinten die Theologen. 1678 promovierte sie mit einem Disput über die Analytica posteriora von Aristoteles als erste Doktorin der Philosophie. Der Andrang zur öffentlichen Disputation war so groß, dass man in die Kathedrale von Padua umziehen musste. Nun redete doch eine Frau in der Kirche. Nach Margaret Alic arbeitete Piscopia als Dozentin für Mathematik in Padua.

In Frankreich war die in einem vermögenden Haushalt lebende Émilie du Châtelet (1706-1749) eine Frau, die sich durch renommierte Hauslehrer mathematische Kenntnisse aneignen konnte. Ab 1734 lebte sie mit Voltaire zusammen. Ihre Übersetzung von Newtons "Principia mathematica" aus dem Lateinischen ist bis heute die maßgebliche französische Übersetzung. Die Mailänderin Maria Gaetana Agnesi (1718-1799) war eine Mathematikerin, die von ihrem Vater, einem Seidenhändler, als Wunderkind erzogen wurde, sich aber mit dem Selbststudium der Mathematik vom Vater absetzte. Ihr 1748 erschienenes Buch "Instituzioni analitiche ad uso della gioventù italiana" ist das erste Mathematik-Werk, das von einer Frau verfasst wurde. Nach ihr ist eine von ihr diskutierte Kurve benannt, die Versiera der Agnesi. Der englische Übersetzer des Buches las indes "avversiera" und übersetzte den Begriff als Hexe (= Frau gegen Gott), womit in der englischsprachigen Zunft von der Witch of Agnesi die Rede ist. Das wird ihr nicht gerecht, denn mit dem Tod des Vaters endete ihre Beschäftigung mit der Mathematik und sie leitete ein Armenhospital, in dem sie später starb. Die Professur für Mathematik an der Universität Bologna, die ihr der Papst 1750 angetragen hatte, nahm sie nicht an.

Frauen, die Mathematik und IT prägten und prägen (10 Bilder)

Pythagoras und rechts daneben vermutlich seine Frau Theano von Kronos, dargestellt in Rafaels Wandfresko "Die Schule von Athen".

Auch Sophie Germain (1776-1831) war die Tochter eines betuchten Seidenhändlers. Germain erhielt ihre mathematische Ausbildung zunächst durch Hauslehrer und arbeitete sich durch die Werke von Newton und Euler. Nach der Gründung der École polytechnique in Paris im Jahre 1794 schrieb sie sich unter dem Pseudonym Antoine Auguste Le Blanc als Student ein und studierte bei Joseph Louis Lagrange. Unter dem Pseudonym begann sie einen Briefwechsel mit Gauß über sein Werk "Disquisitiones arithmeticae" und wandte sich der Zahlentheorie zu. Ab 1808 forschte sie auf dem Gebiet der Elastizitätstheorie und wurde dafür 1815 mit dem Preis des Institut de France (Académie des sciences). Trotz der herausragenden Bedeutung, die ihre Theorie für den Bau des Eiffelturms hatte, findet sich ihr Name nicht auf der Gravurplatte der Ingenieure und Wissenschaftler, die am Bau des Eiffelturms beteiligt waren. In der Mathematik ist sie für ihre Beiträge zum Satz von Fermat bekannt und mit der Sophie-Germain-Primzahl geehrt.

Bei der Nennung von Florence Nightingale (1820-1910) wird gerne an die Krankenpflegerin gedacht, doch erhielt sie mathematischen Privatunterricht durch James Joseph Sylvester, der sie als seine begabteste Schülerin bezeichnete.

Florence Nightingdale (* 12. Mai 1820 in Florenz, Großherzogtum Toskana; † 13. August 1910 in London, England), um 1850 herum

Nightingale entwickelte durch ihre Forschungen über Krankheiten und Sterblichkeiten als Statistikerin im Krimkrieg das Polar-Area-Diagramm. Um die Namensverwirrung komplett zu machen, lebte eine weitere bedeutende Statistikerin namens Florence Nightingale David von 1909 bis 1993. Nach ihr ist ein Preis benannt, der an Statistikerinnen verliehen wird, die als Vorbilder für Arbeit von Statistikerinnen in der Forschung gelten.

Mit Querelen um eine Auszeichnung begann die Karriere der britischen Mathematikerin Charlotte Angas Scott (1858-1931). Sie wurde nach einer mathematischen Ausbildung am Girton College für junge Frauen ausnahmsweise zum mathematischen Tripos-Examen der Universität Cambridge im Jahre 1880 zugelassen und war die achtbeste. Bei den zehn Besten, die bei einer Zeremonie als "Wrangler" ausgerufen werden, wurde ihr Name einfach übergangen. Die Mitstudenten protestierten lautstark. Scott, die bei der Zeremonie nicht anwesend war, feierte unterdessen am Girton College. Dort unterrichtete sie als Mathematik-Dozentin und war 1885 die erste Frau mit einem Mathematik-Doktor – der Universität London. In Cambridge durften Frauen erst nach 1948 promovieren.

Amalie Emmy Noether (* 23. März 1882 in Erlangen; † 14. April 1935 in Bryn Mawr, Pennsylvania), nachcoloriert, vor 1910

Damit sind wir bei der deutschen Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935) angelangt. Als Tochter des Erlanger Mathematikers Max Noether konnte sie über Umwege (der Besuch eines Gymnasiums war in Bayern verboten) 1903 das Abitur bestehen und Mathematik studieren. 1907 promovierte sie mit einer Arbeit über die Invariantentheorie, sie betreute dort Doktoranden, erhielt aber keine bezahlte Stelle.1915 wurde sie von Felix Klein und David Hilbert nach Göttingen eingeladen, damaliges Weltzentrum der Mathematik. Zu den eingangs erwähnten Querelen über ihre Habilitation gehörte der entrüstete Ausspruch von David Hilbert, dass eine Fakultät doch keine Badeanstalt sei – in der Männer und Frauen damals getrennt baden mussten. Noether scheiterte im gleichen Jahr am Habilitationsverbot für Frauen und musste auch nach 1919, als sie sich als erste Deutsche in Mathematik habilitierte, einen gering bezahlten Lehrauftrag annehmen, der jedes Semester bewilligt werden musste. Sie musste zur Machtergreifung der Nazis 1933 als Jüdin in die USA fliehen und starb zwei Jahre später an einer missglückten Operation. Sie gilt heute als Mitbegründerin der modernen Algebra.

In dem einfühlsamen Comic Noethember, gezeichnet von der chilenischen Mathematikerin Constanza Rojas-Molina, kann man das bewegte Leben von Emmy Noether verfolgen. Dass sie als Jüdin in die USA auswandern musste, war ein Los, das viele Mathematikerinnen und Mathematiker zuteilwurde, die nicht in die furchtbare "deutsche Mathematik" der Nationalsozialisten passten.

Erwähnt seien Herta Taussig Freitag (1908-2000) und Hilda Geiringer von Mises (1893-1973), die sich unter schwierigsten Umständen durchsetzten und überlebten. In diesem Zusammenhang muss auch die Mathematikerin Johanna Weber (1910-2014) erwähnt werden, die sich weigerte, in die NSDAP einzutreten und deshalb in die Industrie wechseln musste. Zunächst arbeitete sie bei der aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen. Schließlich gelangte sie nach Großbritannien, wo sie half, das Überschallpassagierflugzeug Concorde zu konstruieren.

Mathematikerinnen spielten auch in der Entwicklung der Informatik und der Computertechnik eine wichtige Rolle. Hier gibt es bekannte Namen, die alles überstrahlen und vielfach gewürdigt sind, etwa Ada Lady Lovelace (1815-1852), die mit ihren "Anmerkungen des Übersetzers" im Jahre 1843 einen universalen Computer beschrieb und davon schwärmte, dass die von Charles Babbage ausgedachte Analytical Engine algebraische Muster webe wie der Jacquardwebstuhl Blüten und Muster.

Ada Lovelace (* 10. Dezember 1815 in London; † 27. November 1852 ebenda), 1836 in einem Gemälde von Margaret Sarah Carpenter.

Von ihr führt der Weg zur Mathematikerin Ada Dietz (1882-1950), die algebraische Ausdrücke mit dem Webstuhl visualisierte, aber auch zur Mathematikerin Mary Everest Boole (1832-1916), die nicht als Mathematikerin lehren durfte und als Bibliothekarin unterrichtete. Ihre Visualisierungen mathematischer Modelle begründeten die moderne String Geometrie, während ihr Mann die Boolesche Algebra entwickelte, die als Schaltalgebra das Rechnen von Computern bestimmt.

Bekannt ist auch das Werk von Grace Hopper (1906-1992), deren Karriere mit einer mathematischen Dissertation (PDF-Datei) begann. Weit weniger bekannt ist die herausragende Rolle, die Mina Rees (1902-1997) als Leiterin der Mathematik-Abteilung des Office of Naval Research (ONR) im II. Weltkrieg spielte. Sie koordinierte über das Applied Mathematics Panel praktisch die gesamte mathematische Forschung in den USA, weil ihr nomineller Chef Warren Weaver als Leiter der Rockefeller Foundations schon Arbeit genug hatte.

Relativ unbekannt ist auch die Rolle der Mathematikerin Betty Shannon (1922-2017). Sie schenkte ihrem Mann Claude Shannon nicht nur den Erector-Baukasten, mit dem er die mechanische Maus Theseus konstruierte, sondern verdrahtete diese auch. Das "joint project" der Shannons bestand darin, dass Betty Claudes Ideen notierte und mathematisch ergänzte. Viele Manuskripte trugen ihre Handschrift.

Seine Tochter war gerade einmal zwei Tage alt, da stellte Aaron Stern, ein Überlebender eines Konzentrationslagers, im Jahre 1952 der US-amerikanischen Presse das Edith-Project vor, die systematische Erziehung einer Tochter zum Wunderkind. Mit The Making of a Genius veröffentlichte er ein Buch darüber, das verschweigt, dass die hochtalentierte Mathematikerin Edith Stern ihren Kummer in sich hineinstopfte, bis ihr körperlicher Lebenswandel von den Eltern abgelehnt wurde. Danach startete sie jedoch eine beachtliche Karriere bei IBM, die mit dem Kate-Gleason-Award belohnt wurde. Sie hält zudem 120 Patente.

Neben den unerkannten Heldinnen, die bei der NASA und anderswo die Technikgeschichte prägten, sei noch die Mathematikerin Anne Easley (1933-2011) erwähnt, die ab 1955 34 Jahre bei der NACA, später als NASA bekannt, arbeitete. Dort musste sie als Frau und Afroamerikanerin lange um Anerkennung kämpfen. Neben ihrer Arbeit am Centaur-Programm wurde sie die erste Equal Employment Opportunity-Beraterin der NASA und forschte an der Nutzung erneuerbaren Energien wie Windkraft und Sonnenenergie, die uns in die Zukunft bringen müssen. Und was passiert in der Mathematik?

Was heute ansteht, zeigt die wohl begabteste Vertreterin der Kategorientheorie, Emily Riehl. Die Mathematik-Professorin an der Johns-Hopkins-Universität reüssierte als Football-Spielerin und Bassistin einer Queer-Band. Zusammen mit vielen weiteren MathematikerInnen (PDF-Datei) gehört sie zu den Gründerinnen der LBGTQ+-Organisation Spectra. Mathematik ist eben für alle Menschen da.

(mawi)