Aufwind in Fernost

Laut einer Studie der Universitäten Harvard und Tsinghua könnte China 2030 seinen gesamten Strombedarf aus Windenergie erzeugen - und damit politische Unruheherde im Norden und Westen beseitigen. Die Modernisierung des Stromnetzes läuft bereits an.

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Von
  • Peter Fairley

Für viele im Westen ist China noch immer eine anti-grüne Horrorshow: dichter Smog über Millionstädten, eine Armada von Kohlekraftwerken, verschmutzte Flüsse. Doch das Klischee beginnt sich abzunutzen. In den vergangenen fünf Jahren hat das Reich der Mitte seine Windkraftkapazität jährlich verdoppelt. 2010 wird es die USA als größter Weltmarkt für neu installierte Windräder überholen. Forscher der Harvard University und der Tsinghua-Universität halten das aber nur für einen bescheidenen Anfang: Nach ihren meteorologischen und finanziellen Modellrechnungen könnte China schon 2030 seinen gesamten Strom aus Windenergie erzeugen – und zwar profitabel.

Grundlage der Prognose des Harvard-Tsinghua-Projekts ist eine dezidierte Analyse, wieviel Wind in China zur Verfügung steht. Hierzu teilten die Wissenschaftler um Michael McElroy die Landesfläche in Stücke von je 3.335 Quadratkilometern auf. Dann nahmen sie die meteorologischen Aufzeichnungen der letzten fünf Jahre, um für jeden der Flecken ein Windprofil zu erstellen. Auf denen verteilten sie in einem Modell handelsübliche 1,5-Megawatt-Windräder (ausgenommen blieben Gebirge, Waldgebiete und Städte). Aus den damit verbundenen Anlagekosten berechneten sie schließlich, wieviel der Windstrom kosten würde.

Ergebnis: Vor allem im Norden und im Westen China könnte die Kilowattstunde so billig produziert werden, wie in bestehenden Windparks derzeit nur dank Subventionen möglich – für umgerechnet 0,4 bis 0,55 Eurocent. Nach der Modellrechnung von McElroys Team könnten bei flächendeckender Windkraftversorgung 6,96 Billionen Kilowattstunden Strom erzeugt werden. Das ist mehr als doppelt so viel, wie China gegenwärtig in einem Jahr verbraucht (3,4 Billionen Kilowattstunden), und ungefähr der Verbrauch, der für 2030 prognostiziert wird. Im Schnitt käme in diesem Modell eine Kilowattstunde auf Stromgestehungskosten von rund 0,5 Eurocent.

Das bedeutet: Windkraft eröffnet China in den kommenden zwei Jahrzehnten die Möglichkeit, auf eine weitgehend CO2-neutrale Stromversorgung umzusteigen. Würde der wachsende Verbrauch hingegen ausschließlich mit Kohlekraft gedeckt, entstünden 3,5 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr – mehr als die gesamte EU 2030 pro Jahr ausstoßen will.

Für Harvard-Umweltforscher Michael McElroy ist diese Vision alles andere als unrealistisch und eine ernsthafte Prüfung wert. 0,5 Eurocent oder 0,516 Yuan sind das untere Ende der künftigen Tarifspanne für Windstrom, die der chinesische Volkskongress erst im August beschlossen hat. Hinzu komme, so McElroy, dass Chinas Windkraft-Industrie ihre Ziele „Jahr für Jahr“ übertreffe. China werde seine Zielmarke für 2020 – 30.000 Megawatt – bereits im kommenden Jahr erreichen, ein ganzes Jahrzehnt früher, hat der Global Wind Energy Council in Brüssel errechnet. 2020 werde die Gesamtkapazität der Windenergie dann schon 135.000 Megawatt betragen, schätzen Analysten von Emerging Energy Research in Cambridge, Massachusetts.

Allerdings, fügt McElroy hinzu, müsse Chinas Stromnetz dafür modernisiert und ausgebaut werden, um die Ertragsschwankungen der Windenergie verkraften zu können. Laut Global Wind Energy Council ist das heutige, veraltete Netz längst ein Hindernis, das den Bau neuer Windparks verzögert. Das Problem dürfte sich noch verschärfen, wenn die Anlagenbauer weiter nach Norden und Westen gehen, wo viel Wind weht. Dort ist das Netz noch schwächer als im Rest des Landes, und der Strom muss weiter transportiert werden, um die Verbraucher in den Boomregionen zu erreichen. In der autonomen Region Innere Mongolei sei der Zustand des Netzes die größte Beschränkung für den weiteren Ausbau, sagt Sebastian Meyer, Forschungsleiter der Beratungsfirma Azure International in Peking.

Die Schwierigkeiten seien sowohl technisch als auch finanziell bedingt, so Meyer. Zur Popularität der Windkraft trage zwar eine politische Richtlinie für die ländliche Entwicklung bei. „Aber wie die Modernisierung und Ausbalancierung des Stromnetzes finanziert werden soll, ist noch ungeklärt.“ Die 0,001 bis 0,002 Yuan, die chinesische Verbraucher als eine Art „Erneuerbare-Pfennig“ zahlen, bringen nicht genug, um die nötigen Kosten zu tragen. Und selbst diese Gelder kämen nur mit erheblicher Verzögerung in den lokalen Stromnetzen an, sagt Meyer.

Auf der anderen Seite rüste China seine Netze schon jetzt energisch auf, um seine entlegenen Wasserkraftwerke mit den Metropolen zu verbinden, hält Michael McElroy dagegen. Dieser Prozess ließe sich auch auf die bislang ziemlich unbeständigen Windparks ausweiten. „China hat definitiv das Knowhow, um Langstrecken-Hochspannungsleitungen zu verlegen“, sagt er.

Bereits jetzt wird dort mit Hochspannungs-Gleichstrom- Übertragung (HGÜ) gearbeitet, auf der die Pläne für die neuen Supernetze in Europa und den USA basieren. „China ist weltweit führend im Bau dieser Übertragungssysteme“, bestätigt Bjarne Andersen, Direktor der britischen Beratungsfirma Andersen Power Electronic Solutions und Fachmann für die HGÜ-Technik. HGÜ-Leitungen würden inzwischen Strom mit einer Leistung von 19.860 Megawatt übertragen, Leitungen für weitere 18.900 Megawatt seien im Bau und für noch einmal 17.900 Megawatt in der Planung.

Zudem seien die Chinesen hier auch innovativ, sagt Andersen. Ende des Jahres soll eine 800-Kilovolt-HGÜ-Verbindung die Provinz Yunnan im Landesinneren mit der Küstenprovinz Guangdong verbinden – die erste weltweit. Der Energieverlust in der Übertragung soll 30 Prozent unter dem heutiger 500-Kilovolt-Leitungen liegen. Derzeit werden mehrere andere 800-Kilovolt-Leitungen errichtet.

Die aktuelle Aufrüstung des Stromnetzes zeigt, wie Windstrom aus der Ferne transportiert werden könnte. Die meisten neuen Leitungen würden für die Wasserkraftwerke an den Staudämmen im Westen konzipiert, um Megastädte wie Peking, Shanghai oder Guangzhou zu versorgen, sagt Andersen. Es gebe aber Anzeichen dafür, dass die Netzplaner die Entwicklung der Windenergie allmählich ernst nehmen. Im vergangenen Jahr wurde mit dem Bau einer 750-Kilovolt-Wechselstrom-Leitung begonnen, die von einem Windpark in der westlichen Gansu-Provinz wegführt. Sie ist eines von sechs riesigen Windkraft-Projekten, die die chinesische Regierung beschlossen hat. Im Gansu-Windpark, der auch als „Drei-Schluchten-Staudamm an Land“ bezeichnet wird, soll bis 2020 eine Leistung von 20.000 Megawatt installiert sein. Baukosten: 12 Milliarden Euro (120 Milliarden Yuan).

Für McElroy könnte die innenpolitische Lage den Modernisierungsschub noch beschleunigen. Windreiche Regionen wie das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang im Nordwesten gehören zu den ärmsten in China. Dort kommt es in den letzten Jahren immer wieder zu gewalttätigen Protesten gegen die Regierung. Ein durch Windkraft angestoßener wirtschaftlicher Aufschwung könnte den Unruheherd am Rande Chinas vielleicht beseitigen. Ein guter Grund, die Region mit neuen Leitungen anzubinden. McElroy erwartet, anders als in Europa oder Nordamerika, keine lokalen Proteste gegen Windräder. „Die Regierung ist wohl mächtig genug, um einen einmal beschlossenen Plan durchzuziehen.“ (nbo)