Der Rand
Warum das Wissen der Menschheit offenbar nicht systemrelevant ist.
- Peter Glaser
Buchdigitalisierungsprojekte gibt es schon lange. Das bekannteste ist das bereits 1971 begonnene Project Gutenberg, für das ehrenamtliche Mitarbeiter inzwischen mehr als 25.000 Werke eingelesen haben, deren Urheberrechte abgelaufen sind. Die Klärung der Rechte ist kompliziert, da nicht nur ein Text urheberrechtlich geschützt sein kann, sondern auch eine bestimmte Werkausgabe. Eine Reform des Urheberrechts würde solche wichtigen Projekte vereinfachen und fördern.
Darüber, dass die Bestände der Bibliotheken, dass das Weltwissen digitalisiert werden sollen, herrscht Konsens; nicht aber in der Frage, wie. Ich war erstaunt, als ich davon hörte, dass Google sein Buchdigitalisierungs-Projekt als Betriebsgeheimnis behandelt. In den Bibliotheken durften nur Google-Mitarbeiter die Räume mit den Scannern betreten. Fenster wurden abgeklebt. Ich begann mich zu fragen, was die da machen. Raubkopien? Allen Ernstes stellte sich heraus, dass für Google Books alle greifbaren Bücher eingescannt werden, auch wenn die Firma Google die Rechte daran nicht besitzt. 2005 wurde das Unternehmen deshalb von amerikanischen Autoren und Verlegern verklagt. Man einigte sich auf einen Kompromiss, das sogenannte Google Books Settlement. Es räumt unter anderem den Autoren für die digitale Nutzung eine Beteiligung an Werbeeinnahmen ein.
Im Februar 2009 wurden Urheber in aller Herren Länder per Zeitungsannoncen aufgerufen, sich dem Settlement anzuschließen. Hierzulande hatte sich schon länger der Eindruck verdichtet, dass das bestehende Urheberrecht auf den Kopf gestellt wird. Dem geltenden Recht zufolge bestimmt der Urheber darüber, was mit seinem Werk geschieht. Jetzt trieb ein amerikanisches Unternehmen die Autoren mit Entscheidungsterminen vor sich her.
Dazu kommt, dass Google Geld ausschließlich mit der Platzierung von Kleinanzeigen in den Suchergebnissen verdient. Die Firma ist nicht interessiert an dem, was für mich ein Buch ausmacht, sondern an dem weißen Rand. Google ist dabei, die Welttextmasse zu einem Werbeumfeld zu degradieren. Wenn man bedenkt, dass Zeitungsverlage derzeit wegen eines massiven Schwunds an Anzeigen weltweit in die Knie gehen, muss man sich fragen, ob damit nicht ein völlig neues – und möglicherweise verhängnisvolles – Problem in die Welt der Bücher eingeschleppt wird. Bücher waren bisher im Prinzip werbefrei.
Im März veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Roland Reuss den "Heidelberger Appell", in dem er aufruft, sich gegen eine Enteignung der Urheber durch Google zur Wehr zu setzen. Damit traf er einen Nerv. Auch ich habe unterschrieben – wenn auch mit Bauchschmerzen, da der Appell sich in einem zweiten Teil gegen Open Access wendet. Dabei geht es um das allgemeine Zugänglichmachen wissenschaftlicher Werke, deren Zustandekommen aus Steuermitteln finanziert wird. Im Heidelberger Appell wird das, absurderweise, zu einer Gefahr für die Freiheit der Forschung erklärt.
Wie kompliziert die Lage ist, zeigt sich auch daran, dass der Initiator des Heidelberger Appells sich zwar gegen die Enteignung von Autoren durch Google wendet, zugleich aber ist Roland Reuß Herausgeber der historisch-kritischen Kafka-Ausgabe – ausgerechnet Franz Kafka, dessen Werke gegen seinen erklärten Willen posthum veröffentlicht worden sind.
Meine Hoffnung, dass die Diskussion auf Google Books fokussieren wĂĽrde, hat sich leider nicht erfĂĽllt. Um nicht als Gegner der gemeinsinnigen Open Access-Idee wahrgenommen zu werden, habe ich meine Unterschrift wieder zurĂĽckgezogen. Immerhin hat die Debatte inzwischen ein AusmaĂź erreicht, das dazu gefĂĽhrt hat, dass die Frage der BĂĽcherdigitalisierung neu verhandelt wird.
Es gibt übrigens auch bei uns Digitalisierungsprojekte – Libreka und die Europeana –, die angesichts des massiven Drucks, den Google vorlegt, erstaunlich lautlos vor sich hindümpeln. Was ihnen fehlt, ist der politische Wille zu einem ernsthaften Anschub. Auch wenn immer wieder vollmundig zu hören ist, es ginge um das Wissen der Menschheit, so ist dieses Wissen, wie es heute bei gefährdeten Banken heißt, offenbar nicht "systemrelevant".
(bsc)