Computerspielsucht: "Es kann jeden treffen"

Rund 34.000 Jugendliche, zumeist Jungs, sind nach Expertenschätzungen süchtig nach Computerspielen. Gefährdet seien vor allem Jugendliche, die ein Anerkennungsdefizit haben.

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Von
  • Nicole Grün
  • dpa

Ohrion ist eine beeindruckende Gestalt. Breite Schultern, schmale Taille, die langen weißen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Anmutig reitet der Jäger auf einem weißen Tiger durch verwunschene Wälder oder durchquert feurige Lavalandschaften. Er trifft sich mit Hexen, Zwergen und schwarzen Rittern und stürzt sich mit ihnen in aufregende Abenteuer. Hinter der Figur aus dem beliebten Computerspiel "World of Warcraft" verbirgt sich der 26-jährige Sozialpädagoge Claudio von Wiese. Als Jugendlicher war er fast fünf Jahre lang süchtig nach PC-Spielen, sagt er am heutigen Montag in München — wie in ganz Deutschland nach Experten-Schätzungen mittlerweile rund 34.000 Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren. Laut Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) sind vor allem Jungen abhängig.

140 Minuten spielen Jugendliche im Durchschnitt täglich am Computer — bei Wiese waren es zur Hochzeit mit 18 Jahren oft mehr als 10 Stunden. "Geschlafen habe ich nur zwei bis vier Stunden, meistens auf der Schulbank", erinnert er sich. Mit seinem markanten Gesicht und der sportlich durchtrainierten Figur in Jeans und schwarzem T- Shirt entspricht Wiese nicht gerade dem Klischeebild eines Computerfreaks, der keine Freunde hat. "Der Mythos, dass nur Außenseiter und psychisch Kranke spielsüchtig werden, ist ein Witz", sagt er denn auch. "Es kann theoretisch jeden treffen, vor allem Leute, die einen ausgeprägten Wettkampfgeist haben."

Sich mit virtuellen Mitstreitern messen, Abenteuer erleben, stark sein, gut aussehen — darum geht es laut dem Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer bei Spielen am PC. "Ein Computerspiel bringt Jungs in eine Männerrolle, in der sie nicht mehr ohnmächtig sind", erklärt er die Faszination, die der ungesunde Zeitvertreib vor allem auf Jungen ausübt. Dass sie viel mehr Zeit mit Computerspielen und Fernsehen verbringen als Mädchen, sei ein Grund für den extremen Leistungsabfall von Buben in der Schule. 1990 hätten noch gleich viele Jungen und Mädchen Abitur gemacht, 2007 waren es nur noch 43 Prozent Jungen und 57 Prozent Mädchen. "Es muss der Medienkonsum sein, der den Unterschied macht", meint Pfeiffer. Das Computerspiel "World of Warcraft" bezeichnet er als "den größten Leistungskiller, der je auf den Markt gekommen ist".

Gefährdet seien vor allem Jugendliche, die ein Anerkennungsdefizit in anderen Bereichen haben. "Streit mit den Eltern, Schwierigkeiten in der Schule — es kann nur eine vorübergehende Krise sein, aber man ist schnell mit einem Bein in der Spielsucht", sagt Pfeiffer, der für Jugendliche Angebote will, die attraktiver sind als virtuelle Welten. "In ihnen muss wieder die Lust am Leben geweckt werden. Wenn sie Hobbys entwickeln und Leidenschaft entfalten, üben Computerspiele keinen so großen Reiz mehr aus", sagt Pfeiffer. Zusammen mit dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) fordert er die Eltern dazu auf, das Spielverhalten ihrer Kinder zu beobachten, gemeinsame Regeln zur Spielzeit und -dauer festzulegen — und vor allem keine Bildschirmgeräte in die Kinderzimmer zu stellen.

"Als ich mit 14 Jahren meinen eigenen Computer mit Internetzugang im Zimmer hatte, ging es erst so richtig los", erinnert sich Claudio von Wiese. Trotz durchwachter Nächte vor dem Computer schaffte er das Abitur mit einem Notendurchschnitt von 2,4. Erst mit 19 Jahren kam er von seiner Computerspielsucht los. "Ich musste viel nachholen danach. Die Zeit damals ist einfach verschwendet. Wenn ich darauf zurücksehe, weiß ich, dass da ein großes Loch ist", sagt er. Mit dem BLLV bietet der Sozialpädagoge nun Seminare über Spielsucht bei Jugendlichen an und beschäftigt sich nur noch "rein professionell" mit den PC-Spielen. Doch er bekennt: "Der Reiz ist noch da."

(vbr)