Mit Pervasive Computing in die organisierte Verantwortungslosigkeit

Schweizer Technikforscher legen Studie zum künftigen Alltag im Netz der schlauen Gegenstände vor.

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Von
  • Richard Sietmann

Noch ist Pervasive Computing -- die Durchdringung der Alltagwelt mit vernetzten, "smarten" Gegenständen -- weitgehend Zukunftsmusik. Aber als Leitbild für Forschung und Entwicklung beginnt es bereits Wirkungen zu entfalten: Zahlreiche Institute und Großkonzerne wie IBM, Hewlett Packard und Rank Xerox arbeiten mit Hochdruck an der Realisierung der Vision von miniaturisierten, miteinander kommunizierenden und umgebungssensitiven Mikrochips in Jacken, Brillen, Haushaltsgeräten, Einrichtungsgegenständen oder gar dem menschlichen Körper selbst. Sie sollen den Menschen einmal auf Schritt und Tritt begleiten und ihn quasi mit einer zweiten Haut umgeben.

In der heute veröffentlichten Studie "Das Vorsorgeprinzip in der Informationsgesellschaft", der bislang umfassendsten auf diesem Gebiet, versucht das Team um Lorenz Hilty vom Zentrum für Technikfolgenabschätzung beim Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierat die zu erwartenden Auswirkungen der zunehmenden Instrumentierung der Lebenswelt in den Anwendungsfeldern Wohnen, Verkehr, Arbeit, Gesundheit und Bekleidung auszuloten. Herausgekommen ist eine 350-seitige Risikoanalyse von Auswirkungen, die der Markt nicht "sieht", weil die Folgen dem Käufer nicht bekannt oder generell ungeklärt sind, weil sie schleichend auftreten oder als externe Effekte Dritte betreffen.

Ein zentrales Thema der Schweizer Untersuchung, an der auch das Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin beteiligt war, sind die kontraproduktiven Nebenfolgen der vom Pervasive Computing erhofften Gewinne an Zeit, Komfort, Sicherheit und Lebensqualität. Geräte beispielsweise, die ihren Energiebedarf auf die gegebenen Umstände optimal abstimmen, werden zwar einzeln betrachtet weniger Strom fressen als ihre weniger smarten Vorgängermodelle, doch wenn immer mehr Gegenstände drahtlos vernetzt werden, nimmt zugleich der Stromverbrauch der notwendigen, unterbrechungsfrei betriebenen Netzwerk-Infrastruktur zu. Und die Einbettung elektronischer Komponenten in Bekleidung und Verpackungen kann die ohnehin anstehenden Entsorgungsprobleme des Elektronikschrotts weiter verschärfen. Auch in den Bereichen Verkehr und Arbeit ist kaum zu erwarten, dass sich die Effizienzsteigerungen durch Pervasive Computing per saldo erleichternd auswirken. Im Gegenteil: "Es ist sogar damit zu rechnen, dass die Anforderungen an Mobilität und Arbeitsleistung in einem höheren Ausmaß zunehmen, sodass die erwarteten Entlastungen überkompensiert werden".

Im Vergleich zu den heutigen Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnik wird Pervasive Computing die Datenschutz- und Sicherheitsprobleme verschärfen, die Komplexität der Systeme schwerer beherrschbar machen und mit der stärkeren Durchdringung des Alltags die Abhängigkeit von Hintergrundprozessen steigen, deren Undurchschaubarkeit dem Nutzer ein deutlich höheres Maß an Vertrauen abverlangen. Gleichzeitig verschleiern die vernetzt erbrachten Funktionen und Dienstleistungen zunehmend die Zusammenhänge zwischen einer Handlung und deren Folgen, sodass die Ursachen von Fehlfunktionen schwerer zu ermitteln sind.

Das Prinzip des Haftungsrechts, dass der Verursacher eines Schadens für die Folgen einzustehen hat, droht damit ausgehöhlt zu werden: "Dahinter steht das Grundproblem, dass Maschinen im Gegensatz zu Menschen nicht zu einem 'Commitment' fähig sind, aber im täglichen Umgang immer mehr als handelnde Subjekte wahrgenommen werden", heißt es in der Studie. "Die Zusage einer Maschine -- zum Beispiel, dass sie eine bestimmte Funktion erfüllen wird -- ist prinzipiell wertlos, weil sie keine Verpflichtung empfindet und nicht belangt werden kann".

Im Ergebnis rechnen die Autoren mit einer zunehmenden "Dissipation der Verantwortung": So wie viele Umweltveränderungen durch die Feinverteilung (Dissipation) von Stoffen faktisch irreversibel sind, weil man die Schadstoffe nicht wieder einsammeln kann, so könne durch die vielschichtige Vernetzung im sozialen Bereich eine Feinverteilung der Verantwortung entstehen, die mit juristischen Mitteln nicht mehr zu beherrschen sei. "Durch Pervasive Computing könnte ein wachsender Anteil des täglichen Lebens faktisch dem Gültigkeitsbereich des Verursacherprinzips entzogen werden".

Neben dem Haftungsrecht sehen die Autoren den Gesetzgeber auch im Datenschutz gefordert. Smarte Gegenstände, kontextabhängige Anwendungen und ortsgebundene Dienste können Daten über den Aufenthaltsort und Transaktionen der Nutzer sammeln und weitergeben. Mit der allgegenwärtigen Erfassung von Nutzeraktivitäten läuft der Grundsatz der Zweckbindung des Datenschutzgesetzes, wonach die Erhebung und Verarbeitung Personendaten nur zu dem angegebenen Zweck zulässig sind, ins Leere. Das Anlegen personenbezogener Datensammlungen droht durch Pervasive Computing vom Ausnahme- zum Regelfall zu werden. Deshalb befürworten die Schweizer Technikforscher eine Ausweitung der Meldepflichten für technische Einrichtungen, die selbsttätig Datensammlungen anlegen. Insbesondere empfehlen sie "eine Deklarationspflicht für solche Hard- und Softwareprodukte, die Daten aus der Umgebung, in der sie eingesetzt werden, ohne explizite Zustimmung des Benutzers weitergeben können, zum Beispiel über Netzwerke an den Hersteller oder an Dritte". (Richard Sietmann) / (wst)