Tüfteln fürs Leben

Im Unterricht wird vielen Kindern die technische Neugier regelrecht ausgetrieben, sagen Wissenschaftler. Eine Schule in Hannover zeigt, wie man das besser machen kann.

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Von
  • Nike Heinen

Dieser Text ist der Print-Ausgabe 11/2009 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Im Unterricht wird vielen Kindern die technische Neugier regelrecht ausgetrieben, sagen Wissenschaftler. Eine Schule in Hannover zeigt, wie man das besser machen kann.

Der Tag, an dem Lehrer Ratsch den Unterricht "schwänzte", sich einen Hänger lieh, zum Recyclinghof fuhr und mit einer Ladung Schrott zurückkam, hätte ihm woanders wohl ein paar hochgezogene Augenbrauen beschert. An der Integrierten Gesamtschule (IGS) List in Hannover wurde ihm der Schrotttransport aus der Schulkasse bezahlt, anerkennendes Lächeln für die Idee inklusive.

Hans-Jürgen Ratsch ist eigentlich Biologielehrer fürs Gymnasium. Nun, an der IGS, ist er Fachleiter für alle Naturwissenschaften. Zum Schrott fand er, als die Unterrichtseinheit "Technik im Alltag" auf dem Lehrplan einer sechsten Klasse stand. "Ich wollte einfach wissen, was da in den Geräten wirklich drinsteckt", sagt er.

Ratschs Schüler wollten das auch. Mit Eifer und Schraubenziehern rückten sie den Toastern, Föns und Rasierapparaten zu Leibe. Als dann jeder mit roten Wangen vor einem Häufchen Metall und Plastik saß, hatte Ratsch den nächsten Einfall: Jemand von draußen musste her, ein Elektrotechniker. Der Innungsmeister im Ruhestand wurde schließlich zur festen Institution für die Unterrichtseinheit: Von nun an wurden jedes Jahr Schrottgeräte auseinandergebaut, Teilchen für Teilchen benannt – und am Ende wieder fachgerecht zusammengesetzt. "Das meiste können wir reparieren", sagt Ratsch. "Das merken sich die Kinder fürs Leben."

Die IGS List ist keine durchschnittliche Gesamtschule. Sie liegt in einem Akademiker-Stadtteil und gleich neben einem Gymnasium. Sie unterrichtet zwar neben Haupt- und Realschülern auch Kinder mit Gymnasialempfehlung, führt aber nur bis zur zehnten Klasse. Trotzdem könnte sie sich, spätestens seit sie im Jahr 2007 beim deutschen Schulpreis unter die besten zehn kam, die Schüler aussuchen. Nur eine Auszeichnung in einer langen Reihe von Preisen: als berufsorientierte Schule, für die schuleigene Imkerei als ungewöhnlich professionelle Schülerfirma, für ihre technische Bildung. Denn die IGS List hegt und pflegt mit besonderer Hingabe eine ansonsten vom Aussterben bedrohte Spezies Schüler und – besonders preisverdächtig – Schülerinnen: jene, die Technik tatsächlich genauso spannend findet wie die neueste Frisur von Lady Gaga.

Eine besondere Begabung ist dabei nicht entscheidend. Im Gegenteil: In den "Forscherklassen" – einem von mehreren Neigungsprofilen, zwischen denen die Schüler wählen können – sitzen Kinder, die zu Beginn der fünften Klasse kaum das kleine Einmaleins beherrschen, neben Minigenies, die besser rechnen können als mancher Erwachsene. Ihr gemeinsamer Nenner ist das, was sie in den Händen halten: Werkzeuge, Bauteile und fertige Maschinen. Die Kinder schrauben, regeln, bauen, eine Klasse voller Mini-Ingenieure. "Sich die naturwissenschaftlichen Dinge selbst erarbeiten zu können, dieses Lernprinzip kommt nicht nur den Kindern mit Lernschwierigkeiten zugute", sagt der stellvertretende Schulleiter Andreas Lust-Rodehorst, "das ist auch ideal für Hochbegabte."

Volker Schäfer, Lehrer für Arbeit, Wirtschaft und Technik, beginnt die erste Stunde Holzarbeit in einer neuen fünften Klasse immer mit einem Blick in die Bohrmaschine. "Wenn sie die Keilriemen sehen, die über große und kleine Rädchen laufen", sagt er, "dann haben die Kinder das Prinzip der Kraftübersetzung begriffen." Kinder schnitzen bei Schäfer Rennautos aus Holz, löten Blechdosen zu Riesenbienen oder bauen Modell-Dampfmaschinen. Werkunterricht würde Schäfer das nie nennen, er begreift sich als Lehrer für technisches Wissen. "Bei mir ist auch immer eine physikalische Formel mit dabei."

Es sind die Lehrer, die gerade auch die bildungsbewussten Eltern im Viertel überzeugen. Ratschs blaue Augen blitzen vor Vergnügen, wenn er inmitten präparierter Gliedertiere und ausgestopfter Vögel, bei Marmeladebrötchen und Filterkaffee, von seinen Exkursionen ins Innenleben der Elektrogeräte berichtet. Oder von Schleiereulen, die von den Kindern gepflegt und ausgewildert wurden, von selbst gebauten Bewässerungsautomaten für die Schulpflanzen und vom Klima in Sibirien.

Vielen anderen Lehrern für die sogenannten Mint-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – scheint dieses ansteckende Feuer irgendwo zwischen Kindheit und Berufserfahrung verloren gegangen zu sein. "Sie arbeiten sich einfach abstrakt am Stoff entlang", sagt Manfred Prenzel, Leiter der deutschen Pisa-Studie und seit dem Sommer Professor für Empirische Bildungsforschung an der TU München. "Die Kinder wissen nicht, wozu das gut sein soll, und schalten ab." Gerade die neugierigen Geister, die vor ihrer Einschulung voller Fragen an die Natur und die Technik steckten, verlieren dabei das Interesse an den "harten" Fächern. Prenzel: "Die Art des Unterrichts treibt es ihnen offenbar regelrecht aus, Ingenieur oder Physiker werden zu wollen."

An der TU München soll eine ganz neue Fakultät die Misere richten. "School of Education" heißt die Bildungseinheit für angehende Lehrer. 15 Professoren, einer von ihnen Prenzel, sollen ab diesem Wintersemester unterrichten, wie man Schülerherzen begeistert. Ihre Zielgruppe sind vor allem die fachlich sehr profund – und pädagogisch besonders lückenhaft – ausgebildeten Gymnasiallehrer. Ab diesem Semester muss jeder angehende Lehrer, der an der TU studiert, in der School of Education die Schulbank drücken. Und auch bei Lehrern, die jetzt bereits im Schuldienst sind, möchte man mithilfe dieses Expertenteams vermutete pädagogische Wissenslücken füllen. Denn nirgendwo wird so effektiv abgeschreckt wie an den höheren Schulen durch die lehrenden Experten, in Fächern wie Physik und Chemie kommen kaum noch Leistungskurse zustande. Aber wie geht das, packender Unterricht? "Gerade in den Naturwissenschaften muss man Anwendungen zeigen", sagt Prenzel. "Anschauungsobjekte aus dem Alltag, selber machen und nachdenken lassen."

Naturwissenschaften in der 10a der IGS List. Thema: Schaltungen. Auf den ersten Blick ein ganz normaler Schülerversuch. Elektrolytkondensator, Wertetabelle, Spannungskurve. Aber es ist kein 08/15-Unterricht. Denn Andreas Koepsell, Lehrer für Mathematik und Physik, lässt Spulen und Leiterplatten selbst löten, bevor sie in eine Messanordnung kommen. Kein Projekt, sondern reine Not. "Physik ist das Stiefkind der Schulverwaltung", sagt er und zeigt auf Schränke, in denen sich altertümliche Messgeräte stapeln. "Ich habe hier einen Fundus aus Nachkriegsgeräten, das war's." Und nicht nur die Ausstattung sei zum Verzweifeln. "Es gibt ja kaum noch Lehrer mit Physikstudium", sagt Koepsell. "Ich bin der einzige an dieser Schule." Naturwissenschaftler haben vor allem ein Imageproblem. Sie gelten bestenfalls als wunderliche Käuze oder haben, wie Gentechniker und Chemiker, den Nimbus perfider Weltverderber. Und eines sind sie ganz bestimmt nicht: Lehrer, bei denen der ganze Pausenhof "cool!" raunt. "Das liegt auch an den Bildungsreformen der vergangenen 40 Jahre", sagt Rainer Lehmann, Professor für empirische Bildungsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Die Stundenzahlen von Mathematik wurden deutlich reduziert, die frei werdenden Kapazitäten an "weiche" Fächer wie Deutsch, Geschichte und Gesellschaftskunde vergeben. Lehmann: "Heute sind die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder für den Übertritt an höhere Schulen entscheidend, Umgang mit Zahlen und technisches Verständnis spielen nur Nebenrollen."

Zu den Wegen, auf denen der naturwissenschaftliche Unterricht attraktiver gemacht werden sollte, gehört auch fächerübergreifender Unterricht. Biologie, Chemie, Erdkunde und Physik werden nicht mehr getrennt unterrichtet, stattdessen widmet man sich für einige Wochen einem allgemeinen Thema, etwa "Wasser", und betrachtet das dann mal als Lebensraum, mal als treibende Kraft der Verwitterung oder als chemische Formel. Ursprünglich nur in Gesamtschulen üblich, hält diese Unterrichtsform jetzt auch immer mehr an Gymnasien Einzug.

Alle hoffen, dass es hilft. Und doch ist es nur ein großes Experiment. Bislang gibt es keine Untersuchungen dazu, ob der Mixunterricht wirklich tieferes Verständnis hervorbringt – oder nicht sogar naturwissenschaftliche Schlüsselqualifikationen darunter leiden. Die Gründe für den Zweifel: Naturwissenschaften hangeln sich nicht von Beispiel zu Beispiel, sie ordnen die Phänomene in Systeme. Und sie sind sehr unterschiedlich. "Jede Disziplin hat ihr eigenes Denksystem", sagt Lehmann. "Sich darin souverän und präzise zu bewegen, das ist auch etwas, was künftige Wissenschaftler schon in der Schule lernen müssen."

Naturwissenschaften, die 9c, Unterrichtseinheit Gesundheit. Lehrer: Hans-Jürgen Ratsch. Was Viren sind, sollen die Schüler heute von ihren Mitschülern lernen, ein Referat steht an. Der Laptop wirft Folien mit mikroskopischen Aufnahmen an die Wand. Ein schmächtiger Junge, noch ein halbes Kind, sprudelt Wörter heraus wie Replikation, Herpes simplex und Genom, einfach so, ohne Erklärung. Nach den Gesetzen herkömmlicher Pädagogik hätten sie hier alle aussteigen müssen. Aber irgendwie können sie doch folgen. Ob das Virus denn die Gene der Wirtszelle verändere, wenn es sich in deren Genom integriere, fragt ein anderes halbes Kind. Das wüssten sie in Harvard auch gern. Nach dem Unterricht wartet die 15-jährige Tomke. Für die Einheit über Krankheitserreger hat sie gerade aus Salzteig und Tusche ein beeindruckendes Zellmodell gebaut, in dem man sogar die Poren der Proteinfabriken erkennen kann. Ein Blick fürs Detail, der sie für einen analytischen Beruf zu prädestinieren scheint. Sie möchte später trotzdem lieber "etwas Kreatives" machen. Ein anderes Mädchen, die 15-jährige Alana, gehört in der zehnten Klasse in Physik zu den Vorzeigeschülern. "Ich liebe Physik", sagt sie und zeichnet eine Kurve. Und: "Ich möchte mal was mit Menschen machen, Psychologie vielleicht."

Es ist das weibliche Dilemma. Würden sich in Deutschland ebenso viele Frauen wie Männer für technische Berufe entscheiden, wäre die Zukunft der Mint-Fächer gesichert. Aber die Realität sieht anders aus: Sogar technisch und naturwissenschaftlich begabte Mädchen entscheiden sich eher für soziale oder für ästhetische Berufe. "Von der fünften bis zur achten Klasse sind Mädchen in Mathematik und Naturwissenschaften genauso dabei wie die Jungs", sagt Forscher Rainer Lehmann. "Dann kommt der große Bruch." Unter den ersten zehn der am häufigsten an deutschen Universitäten belegten Studienfächer findet sich bei Frauen nur ein Mint-Fach – Biologie. "Die Umgebung vermittelt ihnen, dass sich Frauen um andere Menschen kümmern und um schöne Dinge. Und genau davon finden sie bei Mathe und Physik gar nichts wieder", sagt Lehmann.

Das müsste nicht so sein: Lore Hoffmann und Manfred Lehrke, Bildungsforscher am Kieler Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, hatten das schon Mitte der achtziger Jahre in einer besonderen Physikstunde herausgefunden. Dort war die Strömungslehre einmal nicht anhand der üblichen Kraftstoffpumpe, sondern an einem Modell eines künstlichen Herzens durchgenommen worden. Plötzlich hoben mehr Mädchen als Jungen die Finger – Technikvermittlung über Mitgefühl. Robotik-AG in der Freistunde, der 14-jährige Marcus führt durch die Räume. "Nein, das da haben die Mädchen gemacht", sagt er und zeigt auf einen plüschigen Zweibeiner in der Vitrine der Robotik-AG. "Das sieht man doch... " Ja, man sieht es: Der Pinguin ist nicht nur der einzige Roboter mit Fell, er trägt auch ein rosa Tutu. Markus ist einer der eifrigsten Teilnehmer der AG. Für die IdeenExpo vor einem Jahr hatte er ein paar elektronische Bienen programmiert: Sie konnten miteinander kommunizieren, via Computer-Interface hatte er ihnen den arttypischen Schwänzeltanz beigebracht. Auch wenn sie ein lebendiges Vorbild haben – allein bei dem Gedanken an Plüschleiber für seine Robobienen muss Marcus laut lachen.

"Jungs legen Wert darauf, dass ihre Roboter eine besonders ungewöhnliche Sensorik haben oder dass sie schnell fahren können", sagt Christian Augustin, Fachleiter für Mathematik an der Schule. "Den Mädchen ist der Gesamteindruck wichtig. Sie konstruieren etwas, das man gern haben kann." Da Informatik an der IGS List zu den Kernfächern gehört, werden Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet, um ihren jeweiligen Interessen besser gerecht werden zu können.

Schon zu Beginn des fünften Schuljahres werden die Schüler mit Computern bekannt gemacht, wenige Wochen später geht es ins Roboterlabor. "Wenn wir wieder mehr Mint-Absolventen wollen, dann müssen wir so früh wie möglich an die Kinder herantreten", sagt Prenzel. Denn während sich im Grundschulalter alle Kinder mit Technik begeistern ließen, sei die Pubertät eine kritische Phase, in der bei vielen das Interesse an den Mint-Fächern erlischt. "Außerdem müssen wir ihnen das Gefühl geben, dass sie dort etwas entdecken können." Mathe und Physik sei kein Tummelplatz für Genies, sondern für Durchschnittsmenschen. Prenzel: "Sie müssen merken, dass das jeder begreift."

Eine Statistik darüber, ob die Schüler der IGS List später tatsächlich häufiger technisch-naturwissenschaftliche Fächer studieren als ihre Kameraden an anderen Schulen, gibt es nicht. Eine kurze Umfrage unter den Schülern zeigt aber, dass selbst Kinder, die technische Fächer lieben gelernt haben, Geisteswissenschaften dann doch irgendwie cooler finden. Schule allein kann eben nicht alles richten, Fächer bekommen ihr Image schließlich auch von den Medien und den Eltern. An der IGS List ist gleich die Pause zu Ende. Ratsch muss noch im Schulzoo nach dem Rechten sehen, und dann fängt sein nächster Unterricht an. Es sind zwei Weisheiten, die er zum Abschied mit einem energischen Händedruck mit auf den Weg gibt: "Begreifen hat was mit Anfassen zu tun", sagt er. Und: "Eine gute Schule ist keine Frage der Schulform, sondern der Lehrer. Und", fügt er mit einem Zwinkern hinzu, "der Bereitschaft, sie auch einfach mal zum Schrottplatz fahren zu lassen." (bsc)