Vor 30 Jahren – das World Wide Web wird unabhängig

Grundstein für den Siegeszug: Vor 30 Jahren ebnete eine Bestätigung des CERN den Weg für das World Wide Web, wie wir es kennen. Tim Berners-Lee sei Dank.

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(Bild: Anterovium/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Das Internet kennt viele Geburtstage, der 30. April ist wieder ein solcher: Vor 30 Jahren erhielten Tim Berners-Lee und Robert Cailliau eine schriftliche Bestätigung von einem der Direktoren des Genfer Kernforschungszentrums CERN. Ihr zufolge ist es nun jedem Menschen gestattet, das Web-Protokoll zu nutzen und einen Webserver oder einen Webbrowser zu programmieren und die Software weiterzugeben oder zu verkaufen. Das CERN verlangt dafür keine Lizenzgebühren oder belegt den Vertrieb mit anderen Auflagen. Die Bestätigung machte den Weg frei für den Siegeszug des World Wide Web. Sie ist damit so etwas wie eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber allen Versuchen, das WWW in kommerzielle Verwertungsläufe einzuzwängen.

Wer die Bedeutung des Lizenz-Geburtstages verstehen will, muss etwas tiefer in die Entwicklungsgeschichte der 90er-Jahr einsteigen. Tim Berners-Lee versuchte ab 1991, seine Idee von einem Webserver und einem Webbrowser als Komponenten für ein Information-Retrieval-System unter die Leute zu bringen. So demonstrierte er seine Idee mit einer Website den Besuchern der Konferenz HyperText'91, die im Dezember im texanischen San Antonio stattfand. Sein eingereichter Vortrag war zwar von den Veranstaltern der Konferenz abgelehnt worden, aber das hielt Berners-Lee nicht davon ab, das System auf dem NeXT seines Freundes Paul Jones zu demonstrieren, der an der Universität von North Carolina Bibliothekswissenschaften lehrte. Über das Jahr 1992 hinweg erlebten Berners-Lee und sein Projektleiter Robert Cailliau, wie die Ideen auf der Mailingliste www-talk nur so purzelten. Mit Erwise und ViolaWWW gab es die ersten Browser für X Window, ein Browser namens Samba für den Mac war angekündigt.

Im März 1993 flog Tim Berners-Lee wieder in die USA, um am Fermilab in Chicago sein System zu demonstrieren. In der Stadt traf er Tom Bruce, der einen Browser namens Cello für Microsoft Windows entwickelte, und hörte von einer Browser-Entwicklung am National Center for Supercomputing Applications in Illinois. Mit Freunden machte er sich von Chicago aus auf den Weg durch die Prärie, nur um festzustellen, dass die Entwicklung einen ganz anderen Weg genommen hatte. Am NCSA sprach man nicht davon, dass etwas im Web zu finden ist, sondern davon, dass etwas "on Mosaic" ist. Gleichzeitig diskutierte Marc Andreessen, einer der Projektleiter, wie die Lizenzbedingungen aussehen könnten. Prompt erschien ein erster Bericht in der New York Times, der Mosaic und die Programmierer porträtierte, ohne ein einziges Mal das Web zu erwähnen.

Zu dieser Zeit waren das Web, seine Server und seine Browser noch randständige Erscheinungen, für die sich Hypertext-Freaks und Programmierer von Information-Retrieval-Systemen interessierten. Ungleich größeres Aufsehen erregte damals ein früher Vorläufer der Suchmaschinen namens Gopher, der an der Universität von Minnesota entwickelt worden war. Die "Taschenratte" war ein Informationssystem, das über Clients aufgerufen wurde, die für X Window, den Mac, DOS und Unix verfügbar waren.

In seinem weit verbreiteten Standardwerk "Whole Internet Users Guide & Catalog" lobte Ed Krol Gopher als Retrieval-System für jedermann. Er kritisierte jedoch, dass die Verzeichnisstrukturen und Klassifikationen nicht von ausgebildeten Bibliothekaren gepflegt wurden, sodass jede Gopher-Instanz etwas anders aufgebaut war. Seinen Lesern empfahl er schlicht, mit Gopher zu experimentieren: "Niemand schaut zu und lacht über eure Fehler. Dann macht einfach welche!"

Tim Berners-Lee störte damals etwas ganz anderes. Im Frühjahr 1993 begann die Universität von Minnesota, die Lizenzbestimmungen zu verändern. Während die Clients kostenlos genutzt werden konnten, sollten Firmen für Gopher-Server kräftig zahlen. Selbst Universitäten mussten eine Jahresgebühr berappen. Außerdem wurde das Gopher-Protokoll unter die Lizenzbestimmung gestellt, dass es das Eigentum der Universität war. Die Folge: Die IT-Branche ließ Gopher wie eine heiße Kartoffel fallen, Berners-Lee schrieb von einem Gopher-Desaster.

Zu seiner großen Erleichterung konnte dies dem Web nicht passieren. Nach seiner Rückkehr aus den USA flatterte Post ins Haus. In seinem Buch "Weaving the Web" (deutsch: "Der Web-Report") erinnerte sich Berners-Lee an den großen Moment des Jahres 1993: "On April 30 Robert and I received a declaration, with a CERN stamp, signed by one of the directors, saying that CERN agreed to allow anybody to use the web protocol and code free of charge, to create a server or a browser, to give it away or sell it, without any royalty or other constraint. Whew!" ("Am 30. April erhielten Robert und ich eine von einem der Direktoren unterzeichnete Erklärung mit einem CERN-Stempel, in der stand, dass das CERN zustimmte, jedem zu erlauben, das Webprotokoll und den Code kostenlos zu verwenden, einen Server oder einen Browser zu erstellen, ihn weiterzugeben oder zu verkaufen, ohne jegliche Lizenzgebühren oder andere Einschränkungen. Uff!")

Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web, lässt kein gutes Haar an den Entwicklungen des Web 3.0.

(Bild: dpa, Sven Braun/dpa)

Mit der Bestätigung durch die Direktion war abgesichert, dass sich das World Wide Web nach dem Urknall weiterentwickeln konnte. Wie tragfähig das System war, wurde spätestens deutlich, als der Browserkrieg zwischen Netscape und Microsoft die Gemüter erhitzte. Das Web wuchs weiter ungeachtet der Millionen, die Microsoft und Netscape in einer offenen Feldschlacht versenkten, um den "Markt" zu erobern. Aus dem Urteil der Vorgesetzten von Berners-Lee und Cailliau, das all die Vorschläge der beiden als vage, aber aufregend kommentierte, erwuchs schließlich ein Informationssystem von ungeahnten Ausmaßen, mit Firmen wie Google und Amazon. Ohne das Web-Protokoll würden sie gar nicht existieren.

In der Tradition dieser Form von Freiheit beim Gestalten von Programmen, wie sie einst von Richard Stallman formuliert wurde, steht denn auch die Zukunft, wie sie Berners-Lee mit dem World Wide Web Consortium als gemeinnütziger Organisation verfolgt. Was er sonst noch vorhat, könnte der mittlerweile geadelte Sir Berners-Lee auf dem Kongress WeAreDevelopers verraten. Oder auch nicht. Bekanntlich hat sich Berners-Lee unlängst gegen das Web 3.0 und seine Abzock-Angebote mit Blockchains und Krypto-Währungen ausgesprochen.

(ssi)