Aufbruch ins 21. Jahrhundert, aber die Visionen fehlen

Müdigkeit und Erschlaffung lähmen Deutschland.

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Von
  • Florian Rötzer

Müdigkeit und Erschlaffung lähmen Deutschland. Man hat Angst, will das Neue nicht, schiebt Veränderungen hinaus, scheut vor neuen Techniken zurück, will vor allem Bewahren und Sicherheit. Nichts geht mehr. Depression und Müdigkeit breiten sich aus. Die Zukunft ist abgeschafft. Vor allem gibt es keine Visionen und Utopien, die die Menschen begeistern und gewissermaßen hinter sich Wirtschaft, Wissenschaft und Technik in eine neue Dynamik mitreißen könnten.

Jetzt hat der deutsche Bundespräsident Roman Herzog als ungeduldiger Vater den lustlosen und depressiven Kindern des Standorts Deutschland im wiedererrichteten Hotel Adlon die Leviten gelesen. Er fordert in seiner Rede (http://www.bundespraesident.de/n/nph-b/reden/de/berlin.htm?reden/deutsch1997.map) den längst fälligen „Aufbruch ins 21. Jahrhundert", von dem man hierzulande in der Tat wenig hört. Wenn er nicht bald geschehe, so droht er uns, werden wir den Anschluß verlieren und in die Bedeutungslosigkeit versinken. Schaut euch um, sagt er. Schaut nach Holland, Schweden, Neuseeland, schaut, was in den asiatischen Staaten und in den USA geschieht. Die haben es geschafft, die Anpassung an die Globalisierungsgesellschaft, den Aufbruch, die Dynamik, die Flexibilisierung, die Deregulierung, den leichten Staat und die Verselbständigung der Menschen. Es sind vor allem die Politiker und andere Angehörige der gesellschaftlichen Elite, die Herzog geißelt. Sie verhindern den Aufbruch, aber sie wären - noch immer schön hierarchisch von oben nach unten gedacht - auch die Motoren, die den „Ruck" auslösen könnten, der durch Deutschland gehen soll, um endlich aus seinen Träumen von Sicherheit, Sozialstaat und erworbenem Reichtum aufzuwachen.

Aber der Erweckungs- und Erlösungspathos will Roman Herzog nicht recht gelingen. Unser eigentliches Problem sei ein mentales, sagt Herzog, und demonstriert es gleichzeitig. Stets ist im Zuge der „inneren Erneuerung" von Müssen und Sollen die Rede. Pflichteifrig müssen wir in die Wissens- und Globalgesellschaft und vor allem die globalen Märkte eintreten. Die Vorgaben sind gemacht. Aber wo bleiben die von Herzog geforderten Visionen?

Bio- und Informationstechnologien sollen wir vorantreiben. Da wären möglicherweise ein paar Ideen angebracht gewesen, vielleicht auch ein paar Provokationen, um Tabus zu brechen. Aber Herzog schweigt und läßt sich nichts entlocken. Seine Vorschläge zur Erneuerung sind wichtig. Sicher ist Bildung in der „Wissensgesellschaft" das große Pfand, das es im Verein mit Wissenschaft und Technologie zu fördern gilt. Herzog spricht von Schul- und Hochschulreform, aber dann eigentlich doch nur, daß alles ein wenig schneller gehen soll. Die Bildungsvision fürs 21. Jahrhundert: Die Verkürzung der Schulzeit von 13 auf 12 Jahre. Eröffnet das Perspektiven?

Ja, natürlich, Abbau der Lohnnebenkosten, mehr Arbeitsplätze, Subventionskürzungen, Rückbau der Verwaltung, Senkung der Sozialhilfe, Steuerreform. Das alles sollen wir jetzt und möglichst schnell nachholen. Das muß man - vielleicht - so oder so machen, aber das weiß bereits jeder. Warum jedoch hat Roman Herzog nicht die ihm zur Verfügung stehende Möglichkeit genutzt, eine Ansprache an die Nation zu richten, die auch Aufmerksamkeit erregt, um auch wirklich Anstößiges, Provozierendes, Aufrüttelndes zu sagen, um einen abenteuerlichen Blick ins nächste Jahrtausend zu eröffnen, der nicht nur den Alltag von 1997 beschwört und uns zum Nachsitzen verdammt? Wenn wir „alle Fesseln" abstreifen sollen, dann hätte uns das Roman Herzog vielleicht vormachen können, um uns, die Bürger, und vielleicht weniger die beschworene Elite anzustecken. Schade darum. (fr)