Urteil zur Vorratsdatenspeicherung lässt weiten Interpretationsraum

Die Musikindustrie freut sich, dass Verbindungsdaten ausgewertet werden dürfen, Vertreter von CDU/CSU sehen Rechtssicherheit hergestellt und fordern eine "unverzügliche" Neuregelung, doch die Justizministerin zeigt keine Eile.

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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung ist eine Entscheidung, die es anscheinend vielen Seiten recht macht. Viele Interessenvertreter haben sich rasch daran gemacht, aus dem 60-seitigen Beschluss der Karlsruher Richter das ihnen Naheliegende herauszupicken. Selbst der Bundesverband Musikindustrie, dessen Mitglieder seit Langem zur Bekämpfung von Urheberrechtsverstößen an die Vorratsdaten heran wollen, hat treffliche Aspekte in der Urteilsbegründung entdeckt. So werde darin etwa "ein gesteigertes Interesse an der Möglichkeit" beschrieben, "Kommunikationsverbindungen im Internet zum Rechtsgüterschutz oder zur Wahrung der Rechtsordnung den jeweiligen Akteuren zuordnen zu können".

Die Vertreter der Musikindustrie erfreut die Feststellung des Gerichts, dass "in einem Rechtsstaat auch das Internet keinen rechtsfreien Raum bilden darf". Die Möglichkeit einer individuellen Zuordnung von Internetkontakten bei Rechtsverletzungen "von einigem Gewicht" sei deshalb ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers. Soweit für Auskünfte durch die Provider bei der Verwendung dynamischer IP-Adressen Verbindungsdaten ausgewertet werden müssten, gebe es keine prinzipiellen Bedenken. Die Musikindustrie sieht sich damit darin bestätigt, dass es möglich sein müsse, "Rechtsverletzer im Netz ermitteln zu können".

Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl, kann dem Beschluss ebenfalls Gutes abgewinnen. Der CSU-Politiker freute sich über die endlich erreichte "notwendige Rechtssicherheit". Das Urteil lasse die grundsätzliche Speicherung der für die Arbeit der Sicherheitsbehörden unverzichtbaren Daten zu. Auskünfte über Vorratsdaten seien "bei einer ganzen Reihe schwerwiegender Straftaten möglich". Das Justizministerium sieht Uhl im Einklang mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) gefordert, "unverzüglich verfassungskonforme Regelungen vorzulegen". Peter Altmaier, parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, hatte sich zuvor dagegen "ausdrücklich nicht froh" über die Entscheidung gezeigt.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die zu den Klägern in Karlsruhe gegen das Gesetz aus der Zeit der großen Koalition gehörte, sprach von einem "wirklichen Tag zur Freude". Für weitere anlasslose Datensammlungen auf EU-Ebene wie die Speicherung von Flugpassagierdaten sei der Spielraum damit geringer geworden. Zusammen mit der EU-Kommission müsse nun das weitere Vorgehen beraten werden. Grund zu eiligen Reaktionen bestehe nicht, das Urteil müsse erst genau geprüft werden. Schwarz-Gelb steuert damit wohl auf eine neue koalitionsinterne Konfrontation zu. Die EU-Kommission forderte unterdessen heute von Deutschland rasche Bewegung.

Unter Datenschützern gibt es geteilte Meinungen. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar misst dem Richterspruch weitreichende Bedeutung zu. Er verpflichte den Staat nicht nur, sich selbst bei der Datensammlung zurückzunehmen. Vielmehr sei er auch angehalten, die Bürger vor unangemessenen Datenspeicherungen durch Unternehmen zu schützen. Sämtliche vorsorgliche Datenansammlungen für unbestimmte Zwecke müssten geprüft werden. Schaar interpretierte die Entscheidung zugleich als Signal an Brüssel, die EU-Vorgaben zur anlasslosen Protokollierung von Nutzerspuren zurückzunehmen. Aus Brüssel war dem entgegen zu vernehmen, dass die EU-Kommission auf europäischer Ebene keinen Anlass zu handeln sieht.

"Das Bundesverfassungsgericht hat hier wirklich die Argumentation der Datenschützer übernommen", erklärte der schleswig-holsteinische Landesdatenschutzbeauftragte Thilo Weichert der dpa. Nun müssten weitere Entscheidungen und Pläne auf nationaler und europäischer Ebene noch einmal überprüft werden. Dazu gehöre das zunächst nur auf Eis gelegte SWIFT-Abkommen über die Weitergabe von Bankdaten. Weicherts Kollege aus Mecklenburg-Vorpommern, Karsten Neumann, gab aber zu bedenken, dass der Beschluss eine "Hintertür" für eine künftige Regelung der Vorratsdatenspeicherung aufgestoßen habe.

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der die "Massenbeschwerde" in Karlsruhe organisiert hatte, fordert ebenfalls einen "Stopp der flächendeckenden Überwachung in ganz Europa". Die Bürgerrechtsvereinigung Humanistische Union hält nun eine Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof für nötig, ob nicht doch bereits mit der grundsätzlichen Anordnung der Speicherung der TK-Daten auf Vorrat ein Grundrechtseingriff vorliege.

Für die Linken stellt das Urteil einen "Knockout für die uferlosen Überwachungsträume der Big-Brother-Parteien" dar. Es sei ist eine wichtige Entscheidung "zur Wahrung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit", lobte Jan Korte aus dem Fraktionsvorstand. Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, freute sich über einen "großen Sieg für die Bürgerrechte". Allerdings sei das Gericht nicht weit genug gegangen. In der entscheidenden Frage, ob eine Vorratsdatenspeicherung überhaupt zulässig sei, habe sich Karlsruhe nicht zu einem klaren Nein durchringen können. Zuvor hatte Grünen-Chefin Claudia Roth den "sehr guten" Beschluss als "Klatsche für den Gesetzgeber" gewertet.

Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sieht in dem Urteil eine "schallende Ohrfeige" für die politischen Verantwortlichen – und ist sich damit zunächst einig mit der Piratenpartei. Während diese aber als weiteren Schritt das endgültige Aus für die Vorratsdatenspeicherung verlangt, moniert die GDP, dass erneut "eine schlampige Gesetzesformulierung" der Polizei ein notwendiges Ermittlungsinstrument "aus der Hand geschlagen" habe. Es müsse daher "unverzüglich" ein den Auflagen voll entsprechendes Gesetz vorgelegt werden. Die Hürden seien aber wohl so hoch gelegt, dass eine Abfrage zur polizeilichen Gefahrenabwehr kaum mehr infrage komme.

Branchenverbände wie der Bitkom, der VATM oder der eco begrüßten die Karlsruher Ansage im Kern. Das Gericht habe damit den Sorgen vieler Internet- und Telefonkunden Rechnung getragen. Zugleich fürchten die Wirtschaftsvertreter aber, auf den hohen Kosten für die bereits erfolgten Hilfssheriffsleistungen sitzen zu bleiben oder mit noch höheren Aufwendungen für Folgeregelungen mit deutlich besserem Schutzniveau konfrontiert zu werden. Die Entscheidung des Gerichts zur Entschädigung der Provider sei höchst unbefriedigend, beklagte eco-Chef Michael Rotert. Hier sei der Gesetzgeber gefordert, um Standortnachteile zu verhindern. (anw)