"Ist Ekel angeboren?"

Hanah A. Chapman erforscht Emotionen sowie moralisches Denken und Urteilen am Fachbereich Psychologie der Universität Toronto.

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Von
  • Udo Flohr

Hanah A. Chapman erforscht Emotionen sowie moralisches Denken und Urteilen am Fachbereich Psychologie der Universität Toronto.

Technology Review: Dr. Chapman, welche Arten von Ekel gibt es?

Hanah A. Chapman: Nach Paul Rozin, dem Begründer der Ekel-Forschung, müssen wir zunächst eine Vorstufe betrachten, nämlich unsere Reaktion auf alles, was einen schlechten Geschmack hat. Was also bitter, sauer, salzig oder vielleicht verfault schmeckt. Dieser Abscheu ist simples adaptives Verhalten, denn viele Gifte und Toxine schmecken tatsächlich bitter. Schon einfache Tiere wie zum Beispiel Seeanemonen detektieren Bitteres und spucken es aus. Aus dieser sehr alten Reaktion entwickelte sich das eher abstrakte Gefühl Ekel. Hier treten dann die äußeren Eigenschaften des Stimulus in den Hintergrund; ich kann etwas auch eklig finden, indem ich es nur anschaue oder mir vorstelle, wer es vorher angefasst hat. Ich muß es nicht erst in den Mund nehmen.

TR: Empfinden denn auch Tiere Ekel?

Chapman: Fest steht, dass Tiere auf unangenehmen Geschmack reagieren, die besagte Seeanemone zum Beispiel schon seit 500 Millionen Jahren. Ratten spucken aus und versuchen sich den Mund abzuwischen. Auch nur wenige Stunden alte menschliche Babies reagieren bereits auf bitteren Geschmack und zeigen den bekannten Gesichtsausdruck, der sich auch bei Primaten findet. Übrigens zeigen etwa Schimpansen recht expressive Gesichtsausdrücke, die aber nicht unbedingt den menschlichen Emotionen entsprechen, nach denen sie aussehen – das stellte schon Darwin fest.

Über komplexere Ekelreaktionen bei Tieren wissen wir weniger, auch weil wir sie nicht fragen können. Allerdings ist Ekel bei omnivoren Lebewesen verbreiteter. Ein Panda zum Beispiel isst nur Bambus, alles andere ist eben kein Nahrungsmittel. Menschen und andere Omnivore hingegen essen alles mögliche – das macht es schwieriger herauszufinden, was essbar ist. Tiere verwenden zum Beispiel auch eine bestimmte Ecke ihres Käfigs als Toilette – das könnte man als Ekel-verwandtes Verhalten interpretieren, das vor Krankheit schützt.

TR: Ekel hat also nicht nur mit Nahrung zu tun, oder?

Chapman: Genau. Im Laufe der Evolution kamen komplexere Stimuli hinzu, etwa unsere Reaktion auf den Schweiß oder Speichel anderer Menschen oder bestimmte sexuelle Praktiken. Am abstraktesten ist schließlich die moralische Entrüstung. Sie hat gar nichts mehr mit der materiellen Welt zu tun, sondern ist eine Reaktion auf das Verhalten anderer Menschen in Relation zu sozialen Normen.

TR: Was passiert denn eigentlich genau, wenn wir Ekel empfinden?

Chapman: Ekel hat eine physiologische Komponente, die aus dem parasympathischen System kommt, und zwar in erster Linie Übelkeit. Sie wird zwar nicht nur durch Ekel ausgelöst, aber es besteht ein starker Zusammenhang. Hinzu kommt ein charakteristischer Gesichtsausdruck, nämlich ein Heben der Oberlippe und Naserümpfen, was auch die Augen verengt. Auch kann sich die Kehle zusammenziehen. Dies wird als Schutz des sensorischen Systems interpretiert – wir verringern das eingeatmete Volumen sowie die Oberfläche der Augen. Verhaltensseitig wiederum kommt es zu einer Rückzugsreaktion: Wir möchten uns von Ekelhaftem entfernen, es nicht berühren, uns vielleicht waschen. Als bewusste Empfindungen kommen Abscheu und Anstoß hinzu.

TR: Zeigen sich transkulturelle und ethnische Unterschiede?

Chapman: Eigentlich nicht, es handelt sich um einen der sieben universellen Gesichtsausdrücke. Die hat Charles Darwin bereits 1872 beschrieben, und der Anthropologe Paul Ekman kam 100 Jahre später zum selben Ergebnis. Es gibt allerdings Variationen, was als essbar gilt. Das klassische Beispiel sind fermentierte Nahrungsmittel: Paradigmatisch dafür wäre im Westen der Käse – ein Produkt aus verdorbener Milch, das oft schrecklich riecht und Schimmel enthält. Wir haben aber gelernt, dass er ohne weiteres essbar ist. Aber fragen Sie mal ihre asiatischen oder indischen Freunde, was die davon halten! Woanders wiederum, ich glaube in Island, vergräbt man Hai-Fleisch für drei Monate und lässt es verfaulen. Auch das gilt als Delikatesse, aber mir dreht es den Magen um. Ekel als Schutzreaktion richtet sich also auch nach der Umwelt.

TR: Gibt es auch Unterschiede zwischen Frauen und Männern?

Chapman: Wir verwenden einen Standard-Fragebogen, um Ekelreaktionen zu erforschen, und die größten Unterschiede zeigen sich tatsächlich zwischen den Geschlechtern. Frauen erweisen sich konsistent als empfindlicher, was sicher keine Überraschung ist ... Wir können uns aber auch an Dinge gewöhnen, die dann weniger eklig werden. Ein interessanter Aspekt ist zum Beispiel, dass Frauen sich eher vor den gebrauchten Windeln anderer Babies ekeln als vor denen der eigenen. Eine andere Untersuchung fragte danach, mit wem man eine Zahnbürste teilen würde, und natürlich sinkt die Bereitschaft, je fremder uns die Person ist. Als Schutzreaktion vor Krankheiten mag das einen gewissen Sinn haben – wer uns nahesteht, wird die krankmachenden Bakterien vermutlich sowieso schon haben.

TR: Wie hat sich unser Ekelempfinden historisch verändert?

Chapman: Ich glaube, es hat wieder viel damit zu tun, was man gewöhnt ist. Wer in einer Welt lebt, wo keine Gelegenheit besteht, häufig zu baden, wird eher mit dem Geruch Ungewaschener klarkommen. Ekel wird aber durchaus in alten Texten erwähnt. Chaucer beschreibt in den "Canterbury Tales" zum Beispiel einen Mönch, der an furchtbarer Akne leidet, und er macht überaus deutlich, wie ekelhaft diese Figur wirkt.

TR: Wenn Ekel eine Schutzreaktion ist, wie passt dann der moralische Abscheu dazu?

Chapman: Vielleicht im metaphorischen Sinne. Wenn allerdings Ekel eine Vermeidungs- und Fluchtreaktion ist, dann steckte hinter Ekel vor sozial abträglichem Verhalten das Bestreben, von der betreffenden Person wegzukommen, was ja durchaus die angemessene Reaktion sein kann. Dieser Rückzug ist die Alternative zu Ärger und Angriff, der ja nicht immer sinnvoll ist, wenn es zum Beispiel um den eigenen Chef geht, der sich unmoralisch verhält!

TR: All das scheint darauf hinzudeuten, dass Ekel angeboren ist. Allerdings gibt es da den Einwand, dass Kleinkinder erst lernen müssen, nicht alles in den Mund zu stecken...

Chapman: Ekel ist auf jeden Fall angeboren. Bei jedem normalen Kind wird sich diese Fähigkeit herausbilden. Auch wenn sie erst im Alter von etwa drei Jahren auftritt, werden wir trotzdem damit geboren – auch die Pubertät zum Beispiel tritt ja erst später auf. Es gibt auch einen Versuch mit einer Glasplatte, unter der ein kleiner Abgrund gähnt. Sehr kleine Kinder krabbeln einfach darüber, aber mit etwa zehn Monaten entwickelt sich dann die Höhenangst, die sie davon abhält. Ähnlich ist es mit dem Ekel, der allerdings wie gesagt kulturell teilweise unterschiedlich geprägt ist.

Mehr Antworten

Chapman, H., Kim, D., Susskind, J. & Anderson, A. (2009). "In bad taste: Evidence for the oral origins of moral disgust". Science, Band 323, Seiten 1222-1226.

Rozin, P., Haidt, J. McCauley, C. (2000). "Disgust". In: M. Lewis and J Haviland-Jones (Eds.), Handbook of Emotions, 2nd edition (Seiten 637-653). New York: Guilford Press.

Wer noch nicht genug hat, findet hier außerdem den "Ekel-Fragebogen". (bsc)