"Von Null auf Linux in 6 Monaten? Nur durch kopierten Code."

Das erste Kapitel aus dem bereits heftig diskutierten Anti-Linux-Buch der Alexis de Tocqueville Institution veröffentlicht. Die Anklage: Linux konnte nur durch geistigen Diebstahl so schnell entstehen.

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Von
  • Detlef Borchers

Das russische Wort "Samisdat" lässt sich als Selbstverlag oder Eigenverlag übersetzen. In der UdSSR und der DDR verwendeten Oppositionelle diesen Ausdruck als Obergriff für alle Dokumente mit künstlerischem oder politischen Inhalt, die an der Zensur vorbei verbreitet wurden. Noch heute bezeichnet Samisdat die oppositionelle Literatur in undemokratischen Staaten -- in Abgrenzung von der so genannten "Grauen Literatur" oder auch den "Raubdrucken" populärer (häufig vergriffener) Bücher, die eher in den westlichen Ländern anzutreffen sind. Dem Samisdat stand der Gosisdat, der Staatsverlag, gegenüber, der stets die offizielle Meinung veröffentlichte.

Nun veröffentlicht die Alexis de Tocqueville Institution das erste Kapitel aus dem heftig diskutierten Buch, das die Hintergründe der Entstehung von Linux beleuchten will. "Samiszdat", so der Titel des Buches von Tocqueville-Präsident Kenneth Brown und seinem Assitenten Justin Orndorff, zieht eine durchgehende Linie vom ersten Unix über Minix zu Linux. Mit seinen Beispielen zur Erzeugung von "obfuscated Code" ist es das erste Buch, das die von der SCO Group gegen IBM gesetzte Behauptung vom Code-Klau einzelner Zeilen untermauern möchte. Nach dem seit heute vorliegenden Kapitel ist Kenneth Browns wichtigstes Argument die geringe Entwicklungszeit. Während die Unix-Programmierer Ritchie und Thompson vier Jahre für 11.000 Codezeilen brauchten, konnten die Minix-Programmierer Tanenbaum und Evans die Entwicklungszeit des 12.000 Zeilen umfassenden Minix schon auf drei Jahre reduzieren. Dass Linus Torvalds die 8 bis 12.000 Zeilen Code von Linux 0.01 in nur sechs Monaten produziert hatte, deutet für Brown darauf hin, dass der Code kopiert sein musste.

Als entscheidenden Unfall in der Software-Entwicklung der neueren Zeit wertet Brown dabei die Veröffentlichung des australischen Informatik-Professors John Lions, bekannt als "Lions' Commentary on UNIX 6th Edition". Lions wagte 1977 an der University of New South Wales das Experiment, eine Vorlesung zu halten, in der er den gesamten Unix-Code zu Lehrzwecken kommentierte. Seine Vorlesungsskripte erschienen als Buch, das 1978 von den damaligen Unix-Inhabern Bell Laboratories verboten wurde. Als Samisdat wurde es in der Informatik zur Legende; Brown bezeichnet das als Raubdruck kursierende Werk als das bis heute meistkopierte Buch der Softwarebranche.

So schreibt Brown also, bereits Andrew Tanenbaum habe bei der Entwicklung von Minix vom Samisdat profitiert -- eine Behauptung, der Andrew Tanenbaum selbst heftig widerspricht. Auf seiner Website hat Tanenbaum eine harsche Replik auf Kenneth Brown veröffentlicht, die auch Linus Torvalds und die Linux-Entwicklung verteidigt. "Natürlich hatte sich Linus nicht in einem Vakuum hingesetzt und plötzlich losgelegt, den Source-Code von Linux einzutippen. Er hatte mein Buch gelesen, hatte Minix am Laufen und kannte die gesamte Vorgeschichte (weil sie in meinem Buch steht). Aber der Code ist seiner." Tanenbaum, der seine Sicht des Interviews mit Kenneth Brown zum Besten gibt, kommt im Fazit zu dem Schluss, dass der gelernte Politologe Brown "keine Ahnung" von Software-Entwicklung habe.

Im Unterschied zu Tanenbaum nimmt Linus Torvalds die Argumente des Buchs nicht sonderlich ernst. Er witzelte in einer E-Mail, die wahren Programmierer von Linux seien der Weihnachtsmann und die Zahnfee und endete mit der Vermutung, dass Dritte die Website der Alexis de Tocqueville Institution übernommen haben -- früher hätten sie jedenfalls nie Sinn für Humor gezeigt.

Sowohl die Website der Alexis de Tocqueville Institution als auch Tanenbaums Replik sind derzeit schwer erreichbar; die Server sind offenbar überlastet. Gegenüber dem LinuxInsider erklärte Kenneth Brown, dass die Website seiner Einrichtung in den vergangenen Tagen mehrfach gehackt worden sei. "Sie greifen zu kriminellen Mitteln", beschuldigte Brown die Open-Source-Programmierer. Torvalds Witzelei bezeichnete Brown dabei angeekelt als "öliges Verhalten" ("smarmy attitude").

(Detlef Borchers) / (ghi)