Eine neue Gruppe Motorradfahrer, erlebt am Glemseck. Naja, relativ neu ...

Cargo-Kult Krad

Kradkultisten sind Hipster mit Motorrädern. Sie haben Schwung in eine verkrustete Szene gebracht, sehen modisch und gepflegt aus, leben Kultur und machen das Motorrad cool. Und man kann sie super hassen. Perfekt.

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Dieses Bild fasst das Glemseck eigentlich am besten zusammen: Helm ohne Visier mit Goldlack, Bier, Fotos von alten oder auf alt gemachten Motorrädern. 8 Bilder
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Glemseck, bei Stuttgart. Jedes Jahr Anfang September trifft sich dort die Motorrad-Szene, in den letzten Jahren boomten die Besucherzahlen, weil eine relativ neue Mode boomt: die des Krad-Kultisten. Im Prinzip sind das Hipster, die was mit Motorrädern machen. Ich wollte nur das H-Wort vermeiden, weil dieses H-Wort so schlimm wie das andere H-Wort geworden ist, und der Godwin soll nicht immer Recht behalten im Heise-Forum. Also, die Krad-Kultisten (KK), was tun sie so? Fahren jedenfalls nicht, scheint es auf den ersten Blick.

An meinem Glemseck-Tag Samstag reise ich mit Verspätung auf der Duke aus dem Schwarzwald an, weil die Ruhesteinstraße für eine Rallye gesperrt wurde. Der Kontrast ist groß. Ich trage Sommerleder, Klamotten, in denen man gut fahren kann, aber nicht aussieht wie vom Fetischtreff oder der Mars-Expedition. Integralhelm, wegen Wind und Wetter. Das Motorrad ist relativ neu. Mir entgegen kommt ein Motorrad, relativ alt. Darauf ein Fahrer, relativ jung. Er trägt einen offenen Helm mit Sonnenbrille, natürlich Bart, dazu ein Marken-Feinripp-Unterhemd, Hosenträger aus Leder und eine Jeans, die den Arbeiter-Look der Fünfziger suggeriert.

Form folgt Funktion, Mode folgt Mode

Bei Motorradklamotten besteht immer ein bisschen Klärungsbedarf. Der Laie denkt gern, wir tragen Integralhelm und feste Kleidung, damit wir schöner stürzen können. In Wahrheit stürzen wir sehr selten, ja: Wir versuchen, Stürze möglichst komplett zu vermeiden. Des Integralhelms wichtigste Funktion daher: Er hält den Wind nebst den darin enthaltenen Insekten oder Wassertropfen auf Abstand zur Haut – also dieselbe Funktion, wie sie auch feste Kleidung erfüllt. Die meisten Fahrer sind wohl schon einmal mit dem T-Shirt bei Landstraßengeschwindigkeit in einen prasselnden Sommerregen geraten. Die Aufprallpusteln danach sehen aus wie eine schlimme Geschlechtskrankheit und verdeutlichen, warum Motorradfahrer auf längeren Strecken wenn möglich stabileres Material tragen.

Dem KK dagegen geht es offenbar mehr um Mode, mehr um sehen und gesehen werden. Sein Motorrad ist schön, aber unbequem, was letzlich egal ist, weil er nur kurze Strecken darauf fährt. Soweit meine Vorurteile. Da ich aber weiß, dass ich schnell übertriebene Vorurteile gegenüber jeder Mode hege, kann das alles nicht unrelativiert stehen bleiben. Mein Desinteresse an Mode liegt ja daran, dass ich viel zu faul bin, jedes Jahrzehnt anders auszusehen. Das erledigt schon der Alterungsprozess ganz von allein für mich. Es darf, muss, soll andere Einstellungen dazu geben. Deshalb habe ich die selten angewandte Recherchetechnik "einfach mal mit den Leuten sprechen" ausgegraben und erstaunliche Dinge erfahren.