Cargo-Kult Krad

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Zunächst einmal liegen die sinkenden Fahrleistungen sicherlich nicht über Proportion an den Kradkultisten. Denn obwohl viele von ihnen tatsächlich nur kurze Strecken fahren, gibt es eine ganze Menge, die auf ihren Eisenhaufen nichts lieber tun, als damit auf große Tour zu gehen. Die Fülle von Hipster-Motorrad-Videos motivieren zum Fahren und erklären gleichzeitig diese Motivation für Andere: Es geht um Romantik, vor allem die Romantik der Vergangenheit. Als Männer noch Bärte trugen und Frauen Sachen mit Punkten drauf. Als Arbeit noch etwas war, das man hauptsächlich mit den Händen tat statt hauptsächlich still im Gehirn.

Einmal Seventies ohne Ölkrisen, bitte

Das Tolle an verklärter Vergangenheitsromantik ist ja, dass man alle schlechten Sachen weglässt. Die Siebziger waren live nämlich wahrscheinlich viel weniger toll, als sich das die weit danach geborenen Jungbärte vorstellen. Zwei Ölkrisen, Rasterfahndung, RAF und Schulmädchen-Report kommen in den Hipstervideos deshalb nicht vor. Aber wie fährt man denn jetzt modisch, wenn man Strecke macht? Die Antwort ist ebenso einfach wie alt: Mit Lederjacke, Fliegerbrille und Tuch vor dem Mund. Offenbar hält das bis etwa 140, 150 km/h je nach Stoff Insekten hinreichend gut ab. Wenn es regnet, gibt es gelegentlich Probleme mit der Sauerstoffversorgung durch vollgesogenes Gewebe, daher verwenden betroffene Fahrer bei Wasser von vorne eine Maske aus Neopren oder Leder. Denn Fahrer sind es. Das freut mich. In meinen Vorurteilen sah die Szene aus wie ein merkwürdiger Cargo-Kult, der vergessen hat, wozu diese komischen Maschinen eigentlich gebaut wurden, an die sie im Fehlen jeglicher Erkenntnis im tiefsten Schwabenland bunte Surfbretter hängen. In Wahrheit lebt die Szene nicht nur von der Mode, sondern auch vom Schrauben, Fahren, Tun.

Mode hat also auch ihre positiven Seiten. So sah ich zum Beispiel am Glemseck einen freundlichen Kollegen in Vollbart, abgegrabbelter Lederjacke und passender Jeans. Das ist in Sachen "Außenwirkung von Motorradfahrern" schon ein Fortschritt zu seinem vorherigen Aussehen. Auf einmal kann es wieder cool sein, wie ein Kradist auszusehen. Das war in den Neunzigern anders, als typische Motorradfahrer in ihren bunt gefärbten Glattleder-Presswurstpellen aussahen wie mit Dreiwettertaft lackierte Papageien. In den Nullerjahren dann war es schwarzes Polyester, das wir bevorzugt trugen. Wenn es regnete, sah das aus, als hätten wir wie die Punks früher Mülltüten zu Kleidung verarbeitet. Dann vielleicht doch lieber ein bisschen Mode.

Das Beste an dieser recht neuen Gruppe von Motorradfahrern ist jedoch, dass man sich über sie so herrlich aufregen kann wie über jede Gruppe außer der eigenen. Dschobberisten, Racer, Landstraßenjäger, Tourer und jetzt diese Kradkultisten. Die haben doch keine Ahnung! Was die aus der Duke bauen! Unfahrbar! Und so weiter. Deshalb: Herzlich willkommen, ihr Kradkultisten! Ihr seid schlimmer als beide H-Worte. Es ist in jeder Hinsicht schön, dass es euch gibt. (cgl)