AtHome-Energie

Oder: Man soll die Menschen nicht mit ihren Engsten allein lassen.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Aus alten Zorro-Filmen kennt man die klassische ausweglose Situation, in die der Held gerät, nachdem er in ein Zimmer eingeschlossen wird, dessen Wände sich auf ihn zuzubewegen beginnen. Ähnlich fühlen sich jetzt viele, die den forcierten Ausgangsbeschränkungen Folge leisten oder sich in Quarantäne begeben müssen.

Besonders deutlich spürbar wird der Druck für Familien mit Kindern, die nun mit Social Distancing, Arbeit im Home Office, Wirtschaftskrisenmodus und Unterrichtseinheiten mit Mutti als pandemiehalber umgewidmete Pädagogin jonglieren müssen, wobei sowohl der Hund als auch der Nachwuchs ständig raus möchte. Es ist eine Zeit, in der man schnell viel lernen kann, etwa, dass nicht immer die Lehrer schuld sind, wenn es Probleme gibt. "Wenn die Schulen noch lange geschlossen bleiben, werden die Eltern noch vor den Wissenschaftlern einen Impfstoff entwickeln", bringt es der österreichische Bosnigl Fritz Rabensteiner auf den Punkt.

Zu den interessanten Lernerfahrungen für Kids gehört nun, die Eltern im Home Office bei der Arbeit zu sehen. Das Mysterium "Arbeit", in das Erwachsene sonst morgens entschwinden, wird entschleiert. Es wird zu etwas Konkretem, einem Stück Realismus im Nebenzimmer. Und ganz nebenbei vollziehen sich praktische Vernetzung und Digitalisierung sowohl im Bildungsbereich als auch in der Welt der Angestellten so rasant wie noch nie, ungehindert von bürokratischen Hürden und Perfektionsansprüchen. Interviewpartner, die im Fernsehen in ein Magazin zugeschaltet werden, dürfen nun ruckelbildig und mit einem Ton wie aus einem langhubigen Kochtopf heraus auf Sendung gehen. Und niemand spricht mehr von Entfremdung, wenn alle vor dem Bildschirm sitzen und lesen, fernsehen, arbeiten, lernen.

Coronavirus ist Disruption auf die harte Tour. Durfte man bisher davon ausgehen, dass sich die Folgen der digitalen Transformation nach und nach im Lauf der kommenden Jahre verdeutlichen würden, werden nun innerhalb weniger Tage weite Teile der Wirtschaft per Dekret dichtgemacht, potentielle Kunden müssen zu Hause bleiben. Selbständige, Kleinunternehmer und Mittelständler, die über keine Reserven verfügen, sind durch die weiter laufenden Kosten in ihrer Existenz bedroht; aber es gibt auch schon finanzielle Unterstützung. Alles scheint derzeit zeigen zu wollen: Es geht auch wirklich schnell, man muss nur müssen. Von der nachhaltigen Erfahrung, dass sich inzwischen fast alles online machen lässt, werden am Ende vor allem die ganz Großen profitieren, Amazon & Co.

Aber das heißt nicht, dass in den Millionen kleiner sozialer Laboratorien, in die sich Privatwohnungen jetzt verwandelt haben, nicht auch großartige Dinge entdeckt oder erfunden werden, vom kollektiven Balkonsingen über den Fremdsprachenunterricht per Skype bis zur COVID-19-Kontakt-App nach den Regeln der Datenschutzgrundverordnung.

Die friedliche Nutzung der AtHome-Energie kann unserer Zivilisation eine neue Richtung geben. Es klingelt, der Lebensmittellieferdienst bringt einen größeren Einkauf. Wieder kein Klopapier, aber die Jungs, die die Tüten schleppen, sind immer freundlich. Kontaktlose Übergabe. Ich mache auf ein kleines Trinkgeld am Tisch aufmerksam, und dass ich die Münze desinfiziert habe. Wenn das der alte Schulwart an meinem Gymnasium noch hätte erleben können. Einmal die Woche kontrollierte er die korrekte Haarlänge der Schüler – nun geht keiner mehr zum Friseur. Lange Haare für alle.

(bsc)