20 Jahre Agiles Manifest – definitiv den Kinderschuhen entwachsen

Seite 2: Neues Verständnis

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Auch wenn sich das Manifest von der Definition her nicht verändert hat, hat sich dennoch die Anwendung dieses Verständnisses der Agilität im Laufe der Zeit verändert. Einerseits handelt es sich dabei um kleinere Veränderungen, die eh zu konkret sind, als dass sie im Manifest stehen würden, und andererseits sind sie dem Erfolg der Agilität geschuldet, die unter anderem zur Erweiterung auf andere Anwendungsbereiche führte. Meiner Erfahrung nach erfordern die Veränderungen noch mehr Verantwortungsübernahme aller Beteiligter und damit ein noch tieferes Verständnis der Agilität. Nachfolgend ein paar Beispiele dieser Veränderungen:

  • Es wird heute davon ausgegangen, dass es keine Projekte gibt, da selbst die Unterfangen, die als Projekte starten, weiterentwickelt und gewartet werden. Von daher sollte man all diese Unterfangen ehrlicherweise als Produktentwicklungen betrachten, behandeln und bezeichnen.
  • Es wird kein Mehrwert mehr im Schätzen gesehen. Wenn Teams darauf achten, dass Stories immer ungefähr gleich groß geschnitten sind, wird es unnötig, jede einzelne Story zu schätzen.
  • Stories wurden lange Zeit nur als solche erkannt oder akzeptiert, wenn sie dem Connextra-Format entsprechen ("Als ein ... möchte ich ..., sodass ..."). Vielmehr beruft man sich jetzt wieder darauf, dass Stories lediglich als eine Art Merkzettel für ein Gespräch über den Inhalt der Story dienen (und für Gesprächsnotizen gibt es kein Format).
  • Flow gewinnt zunehmend an Bedeutung. Dazu gehört, dass oftmals die Sprints beziehungsweise Iterationen keine allzu große Rolle mehr spielen. Das heißt, dass Teams nicht alle zwei Wochen mehr planen, sondern eher im Kanban-Modus täglich abstimmen, was sich fertigstellen lässt und was dann aus dem Backlog nachrückt. Das heißt, es wird eher kontinuierlich geplant, und genauso werden auch die Retrospektiven oftmals zu einer kontinuierlichen Reflexion und Korrektur.
  • Vor allem während des Höhepunkts der Black-Lives-Matter-Demonstrationen wurde gefordert, die Rolle des Scrum Master umzubenennen (da der Begriff "Master" historisch zur Abgrenzung zum Slave bzw. Sklaven diente). Die Anregung hat die Scrum-Community jedoch ausgesessen. (Im Gegensatz zu GitHub, wo im Zuge der Diskussion der Master in Main umbenannt wurde.)
  • Agile Entwicklung ohne DevOps ist kaum mehr vorstellbar. Allerdings verstehen viele die zugrunde liegende Idee von DevOps nicht immer. Das wird daran ersichtlich, dass mehr und mehr Unternehmen ein DevOps-Team neben die Entwicklungsteams stellen oder auch die Rolle eines DevOps-Ingenieurs besetzen. Dabei übersehen sie, dass DevOps eine Haltung, eine Kultur ist (nämlich dass Dev und Ops eng verzahnt zusammenarbeiten) und keine Funktion, Rolle oder spezielle Aufgabe.

Die wenigsten "leichtgewichtigen" Methoden, die die Grundlage für das Manifest waren, spielen heute noch eine Rolle. Dazu gehören beispielsweise die Crystal-Methoden oder auch die adaptive Softwareentwicklung. Dafür hat Extreme Programming (XP) in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren unter anderem aus dem Grund, weil sich Kent Beck wieder in der Community zurückgemeldet hat, nachdem er viele Jahre aus persönlichen Gründen nicht mehr in Erscheinung getreten war. Bei einem seiner ersten öffentlichen Auftritte auf der XP 2018 in Porto meldete er sich bezeichnenderweise wie folgt zurück: "I'm Kent and I'm Back." Die neu aufgeflammte Begeisterung für XP führt dazu, dass zunehmend die Meinung vorherrscht, dass nur die Verbindung von Scrum und XP wirklich zum Erfolg führe.

Agilität wird vielfach nicht mehr nur im Rahmen der Softwareentwicklung verstanden, auch wenn das Manifest eindeutig genau den Fokus hatte. Heute ist man davon überzeugt, dass die agilen Prinzipien auch unternehmensweit von Vorteil sind. So ist speziell Business Agility ein Thema, das mehr und mehr Momentum erfährt.

Für die Zukunft muss sich das Agile Manifest beweisen, inwiefern es auch für Diversifizierung und Nachhaltigkeit tragfähig ist. Auf die Frage, was wohl der Unterschied der Werte und Prinzipien wäre, wenn die Begründer des Manifests eine diverse Gruppe gewesen wäre, meinte Ron Jeffries, einer der Co-Autoren des Manifests:

"Schwer zu sagen, insbesondere wenn man sich auf vier Werte beschränken muss. Ich denke, der Fokus hätte stärker auf den Menschen und auf Testen gelegen. Man glaubt, dass das Manifest besser geworden wäre, aber vielleicht wäre es auch gar nicht entstanden. Wäre es überhaupt möglich gewesen, dass eine diverse Gruppe sich trifft? Wollen wir es hoffen ..."

Andere Stimmen unterstreichen den Punkt, dass das Manifest vermutlich weniger entwicklerzentriert gewesen wäre und mehr den Menschen holistisch gesehen hätte, inklusive der Gefahren von Burnout und des Achtens auf mentale Gesundheit. Bei aller Spekulation darf man nicht außer Acht lassen, dass vor 20 Jahren andere Themen aktuell waren als heute. Von daher lässt sich aus heutiger Perspektive über den Einfluss einer größeren Diversifizierung nur schlecht mutmaßen.

Glückwünsche willkommen!

Wann haben Sie Ihre ersten Erfahrungen mit agilem Softwareentwicklung oder agilem Projektmanagement gemacht? Waren sie gut, was gestaltete sich schwierig. Wir freuen uns über Ihren Kommentar im Forum zu diesem Artikel. Gerne können Sie auch die Redaktion von heise Developer kontaktieren.

Was die Nachhaltigkeit angeht, so steckt dieses Thema bezogen auf agile Entwicklung noch in den Anfängen. Es bleibt zu beobachten, inwiefern die Betrachtung des ökologischen Fußabdrucks und der verwendeten Energiequellen einer Software in die agile Entwicklung Einzug halten werden.

Jutta Eckstein
arbeitet als Business-Coach, Change-Managerin, Beraterin und Trainerin im In- und Ausland. Weltweit verfügt sie über große Erfahrung bei der erfolgreichen Umsetzung agiler Prozesse in mittleren bis großen, verteilten, unternehmenskritischen Projekten.

Es gibt eine Reihe von Veranstaltungen, die in diesem Monat das 20-jährigen Jubiläums zum Anlass nehmen, um über die Aktualität und Auswirkung des Agilen Manifests zu reflektieren:

(ane)