Anzug vom Acker

Der Anbau von Baumwolle hat bedenkliche ökologische Folgen. Geht es nach Forschern und Firmen aus der Textilbranche, werden wir uns künftig in Stoffen aus Brennnesseln, Algen, Krabben, Holz und Milch kleiden.

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Von
  • Susanne Donner
Inhaltsverzeichnis

Anderthalb Tonnen Altkleider häufen die Bundesbürger im Laufe eines durchschnittlichen Lebens an. Für die Umwelt ist das eine Katastrophe. Denn ein T-Shirt enthält ohne Weiteres Hunderte unterschiedlicher Chemikalien. Das tragen wir nicht nur auf der Haut, sondern das landet auch im Abwasser und in den Meeren. "Textilien sollten von der Wiege bis zur Bahre zu hundert Prozent recycelbar oder vollständig in der Umwelt abbaubar sein", formuliert der Chemiker und mehrfach ausgezeichnete Ökovordenker Michael Braungart von der Erasmus-Universität Rotterdam das Ziel.

8/2017

Dazu kommt, dass die Baumwolle einen desaströsen ökologischen Fußabdruck hat und in ihrer Qualität immer schlechter wird. Sie wächst überwiegend in trockenen Gebieten, die Landwirte künstlich bewässern. 8000 Liter des kostbaren Nass benötigt eine einzige Jeans. Und weil sich auch ein Dutzend unterschiedlicher Schädlinge an der Pflanze zu schaffen machen, bringt sie ihre hohen Erträge nur mit mehreren Pestiziden. Dennoch steigt die Nachfrage weltweit, sodass der Rohstoff immer teurer wird. Die Suche nach Alternativen drängt also. Deshalb experimentieren Unternehmer und Forscher derzeit mit neuen Stoffen: T-Shirts aus Algen, Krabben und Holz, Nachthemden aus Milch und Hosen aus Brennnesseln.

Tragbare Algen

Josephine Barbe blickt für Alternativen Richtung Meer. Die Expertin für nachhaltigen Konsum von der Technischen Universität Berlin präsentierte mit ihren Studenten kürzlich auf einer Modenschau in Berlin Hoodies, T-Shirts und Hosen aus Algen. "Diese Kleidungsstücke sind kompostierbar und tragen sich wunderbar auf der Haut, weil Algen viele Mineralien enthalten und Juckreiz lindern", sagt die Professorin. Der Stoff namens SeaCell stammt von der Firma smartfiber aus Rudolstadt. Hersteller von Funktionstextilien wie das deutsche Unternehmen Falke und die finnische Marke Vuori Clothing fertigen daraus Sport- und Oberbekleidung.

"Der Algenanteil im Stoff beträgt aber nur vier Prozent", bedauert Barbe. Der Rest sind Fasern aus Holz. Dieses Manko und ein Kuba-Aufenthalt brachten sie auf die Idee, einen Stoff ganz aus Wasserpflanzen zu entwickeln. Denn an den Stränden des Inselstaates stapeln sich angeschwemmte Algen oft meterhoch. Die Anwohner wissen nicht, wohin damit. Gemeinsam mit Chemikern der Universität Havanna will Barbe die Müllberge nun in T-Shirts für die Insulaner umwandeln – zumal der Baumwollanbau die Umwelt auf Kuba sehr belaste und die Ackerflächen zum Anbau von Obst und Gemüse blockiere.

Auch die Hohenstein Institute in Bönnigheim forschen an Textilien aus Algen. Aus der Bausubstanz der Zellwände, dem Alginat, ließen sich hochwertige Fasern erzeugen, die besonders steril, hautverträglich und feuchtigkeitsregulierend sind. 2016 konnten die Forscher Wundauflagen aus dem Stoff präsentieren. Allerdings ernten sie nun nicht mehr im Meer, sondern veränderten das Bodenbakterium Azotobacter vinelandii biotechnologisch, sodass es ausreichend Alginat bildet. Ein Problem sei, dass die Meeresgewächse in ihrer Qualität und Zusammensetzung stark schwankten, berichtet der Experte Dirk Höfer vom Hohenstein Institut für Textilinnovation.

Stoff aus Krabbenschalen

Aus dem Meer kommt auch ein anderer Rohstoff für moderne Kleidung. Das US-Start-up Tidal Vision kauft tonnenweise Krabben- und Fischabfall von Lebensmittelbetrieben und Fischereien an. Rund 900 Millionen Kilogramm Krabbenmüll produziere allein der Staat Alaska jedes Jahr, schreibt das Unternehmen. Aus dem Schalenanteil kann der Rohstoff Chitosan mit Natronlauge herausgelöst werden. Chitosan, ein weißes Pulver, aus anderen Ländern ist bereits seit Längerem auf dem Markt. Es ergibt zu Garn gesponnen juckreizlindernde und atmungsaktive Stoffe. Der österreichische Textilproduzent Lenzing stellt aus dem Krabbenrohstoff zusammen mit Zellulose aus Holz seit 2011 einen neuartiges Material her – Tencel C genannt. Verschiedene Kunden verarbeiten es zu Bett- und Unterwäsche. Unter anderem setzt das schweizerische Unternehmen Calida auf den innovativen Stoff.

Es lassen sich auch Garne und Stoffe erzeugen, die nur aus dem Krabbenabfall bestehen. Dresdener Forscher vom Institut für Textile Maschinen und Textile Hochleistungswerkstoffe machen das seit sieben Jahren mit einer eigenen Produktionsanlage vor. Glänzende Kessel, Bottiche und Walzen reihen sich dort in einer Halle aneinander. Pro Minute entstehen hier zwischen 30 und 40 Meter Garn. Und aus anderthalb Kilo des weißen Krabbenpulvers gewinnen die Pioniere sieben Kilometer Faden. Sie tüfteln daran, daraus Pflaster, Verbände und Kleidung für Neurodermitiker zu fertigen.

Die Mikrobiologin Anke Domaske gründete in Hannover das Unternehmen QMilk, um Stoff aus Milch im großen Stil auf den Markt zu bringen. "Zurzeit gibt es allein in Deutschland zwei Millionen Tonnen Überschussmilch, die in Biogasanlagen landet. Das ist die reinste Vergeudung", sagt ihre Mutter, Ines Klinger, die im Unternehmen mitarbeitet. Die vorhandene Anlage, immer noch ein Prototyp, könne bis zu tausend Tonnen Milchfasern im Jahr erzeugen. Wie viel Milch aktuell verarbeitet würde, verrät sie nicht. QMilk beliefere etliche größere Kunden aus der Textil- und der Automobilindustrie, mit denen man Endprodukte entwickle.

Die allermeisten geplanten Anwendungen seien jedoch geheim. Die weiche Faser könne mit Wolle versponnen als Vlies für die Innenauskleidung von Autotüren oder für Sitzbezüge verwendet werden. Beide Materialien hätten einen ähnlichen Preis. Der italienische Hersteller Tenderly arbeitet die Milchfasern seit 2017 in seine Küchenrollen ein, wie er auf seinen Webseiten schreibt. "Und ich trage ein Nachthemd aus dem Material", erzählt Klinger. Zum Umsatz mag sie keine Auskunft geben, betont aber, man habe bereits einige Millionen investiert. Zurzeit beschäftige QMilk zwanzig Mitarbeiter. In erster Linie arbeiten sie daran, die Fasern in einheitlicher und definierter Qualität herzustellen.

Wie sich das erreichen lässt, haben andere Forscher erst kürzlich verstanden. Unter Röntgenlicht beobachteten Wissenschaftler um Christofer Lendel und Fredrik Lundell von der Königlich-Technischen Hochschule Stockholm, wie sich die winzigen Proteinstränge aus der Milch zu einem Faden verhaken. Dabei sind es gerade die kurzen und krummen Varianten, die den besten Faden ergeben. Die Gestalt der Stränge lässt sich über die Proteinkonzentration steuern, sodass sich mit diesem Wissen die Qualität des Stoffs aus Milch verbessern lässt.

Brennnesseln auf Matratzen

Einen anderen Weg schlägt der Stoffproduzent Mattes & Ammann im badenwürttembergischen Meßstetten ein. Seit sechs Jahren arbeitet er an Stoffen aus Brennnesseln. Textilingenieure wissen zwar seit Jahrzehnten, dass sich aus den Bastfasern in der Stängelwand, die fein wie Haare, aber extrem reißfest sind, Garne und Stoffe erzeugen lassen. Doch der Aufwand ist groß. Mattes & Ammann entwickelte nun erstmals ein vollautomatisches Verfahren, um die Fasern aus dem Stängel herauszulösen.

Bisher ließen die Bauern die Pflanzen nach der Ernte auf dem Acker liegen. Im Wechsel von Tau und Sonne schälte sich der Faseranteil über Tage vom Holzanteil ab. "Wir können diesen Vorgang in wenigen Stunden in unseren Anlagen bewerkstelligen", erklärt Projektchef und Verkaufsdirektor Werner Moser. Erst werden die meterlangen Stängel in Stücke gehäckselt, dann mit einem Cocktail aus Bakterien und Pilzen geimpft, die den Holzanteil von den hauchdünnen Fasern trennen. "Wir können mit der Brennnessel jetzt den Durchbruch schaffen", ist Moser überzeugt. "Im großen Maßstab ist unsere Technik viel günstiger als die manuelle Feldröste."

Der größte Stoffproduzent Europas lässt nun immer mehr Brennnesselfelder anlegen. Vierhundert Hektar sind es zurzeit auf der Schwäbischen Alb und in Ungarn. Weil die Nesseln wie Unkraut wachsen, brauchen sie weder Dünger noch Pestizide. Allerdings liegt der Ertrag je Hektar verglichen mit anderen Textillieferanten wie Flachs und Hanf niedriger. 300 bis 500 Kilogramm Ernte erwartet Moser für diesen Sommer vorwiegend von den zehn Hektar großen Feldern in Ungarn. Zunächst möchte er daraus ein Mischgewebe mit Viskose gewinnen. Einige Outdoorspezialisten und ein Taschenfabrikant hätten schon Interesse bekundet. Für Matratzen und Möbelbezüge würde sich der strapazierfähige Stoff ebenfalls eignen.

"Verglichen mit Baumwolle ist der ökologische Rucksack der Stoffe aus Brennnessel viel kleiner", so Holger Fischer vom Faserinstitut Bremen. "Leider ist er dreimal so teuer, weil der Ertrag geringer ist und die Verarbeitung noch nicht so effizient wie bei Massenware." Der Preis könnte jedoch sinken, wenn es gelingt, eine komplette Verwertungskette für Brennnesseln zu etablieren. Denn im Unterschied zur Baumwolle ist die haarige Pflanze auch für Firmen außerhalb der Textilindustrie interessant. Ihre Blätter sind mineralreich, sie finden sich daher in Tees, Bestandteile davon in Nahrungsergänzungsmitteln. Der Holzanteil heizt ähnlich gut wie Holz und könnte auf dem Pelletmarkt unterkommen.

Kleidung aus Holz

Der Massenstoff der Zukunft aber wird Viskose aus Holz sein, glauben viele Textilspezialisten. Viskose wurde einst als Chemiefaser betrachtet, weil die Herstellung vormals viele Chemikalien verbrauchte. Inzwischen führen moderne Fabriken die Lösemittel aber im Kreis, und der Rohstoff stammt aus Holz. Und das wächst fast überall auf dem Planeten. Schon jetzt drängt die Faser in immer größeren Mengen in die Kleidergeschäfte. Bei der Damenmode lösen die fließenden Stoffe die Baumwolle immer weiter ab.

Auch den Designer Timo Beelow vom Unternehmen Wijld in Wuppertal überzeugte das Material. Nur konsequent nachhaltig müsse es verarbeitet sein, möglichst in Europa und fair bezahlt, fanden er und sein Kompagnon Angelo Cicero. Weil Viskose allein zu feminin aussieht, entschieden sie sich für ein Mischgewebe mit Biobaumwolle, damit ein Stoff entsteht, in dem sich sowohl Männer als auch Frauen wohlfühlen. In kleinen Fabrikbetrieben in Portugal lassen die beiden Pioniere das Garn spinnen und schließlich daraus T-Shirts fertigen. Einige Tausend Stück, in Deutschland digital mit Wasserfarben bedruckt, verkauften sich ihren Angaben nach rasch.

Allerdings auch deshalb, weil Beelow dem Stoff den passenden Marketinganstrich verlieh: "WoodShirt" heißen die Oberteile aus Holz und Baumwolle. "Das war sicher auch entscheidend für den Erfolg", sagt Beelow. "Wir erweitern jetzt unsere Kollektion um Pullover, Hoodies und Hosen." Und nebenbei verlegt er das Firmenkonto auf eine nachhaltige Bank, "damit ich hier guten Gewissens abends rausgehe". (bsc)