Fragen Sie Ihren Account, nicht den Apotheker

Wie es um die Gesundheit der Bevölkerung steht, verrät ein Blick auf ihre digitalen Spuren. Die Daten liefern Hinweise auf Schlafgewohnheiten, Nebenwirkungen von Medikamenten und den Blutdruck am Wochenende.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Susanne Donner

Am Anfang war die Euphorie groß. Digitale Daten würden verraten, wie sich die Grippe ausbreitet und wo die nächste Pandemie losgeht. Sie würden offenbaren, wo die Achillesferse der Gesundheit einer ganzen Bevölkerung liegt – vielleicht beim Blutdruck, vielleicht beim Diabetes. 2014 dann zeigte sich, wie falsch Google mit seinen "Flu Trends" lag. Das Getöse ließ nach, es wurde fast ein wenig still um die Vision der digitalen Epidemiologie.

8/2017

Doch der Eindruck trügt. Ging es in der Anfangsphase darum zu demonstrieren, dass die Erkenntnisse aus Twitter und Smartphones wasserdicht sind, werden nun gänzlich neue Ergebnisse gewonnen, die sich mit klassischen Methoden nicht erheben lassen. "Wir nutzen dazu Daten, die im normalen Gesundheitssystem nicht erfasst werden", erklärt einer der Pioniere der digitalen Krankheitsbekämpfung, Marcel Salathé von der Polytechnischen Hochschule in Lausanne.

Soziale Medien, Smartphone- und Computerdaten, aber auch Wearables sind der Fundus, aus dem die Forscher schöpfen. Auch nationale Gesundheitsbehörden wie das Robert-Koch-Institut (RKI) wollen künftig an diese Datenquelle anknüpfen. "Die Bedeutung der digitalen Epidemiologie wird in der Zukunft erheblich wachsen", meint RKI-Präsident Lothar Wieler. Deshalb baue man die Dateninfrastruktur der Behörde entsprechend um.

Die ersten Erkenntnisse, die allein aus der digitalen Welt kommen, geben allen Grund, den Trend zu stützen. So zeigte Salathé 2015, dass sich aus Tweets die Nebenwirkungen von Medikamenten herauslesen lassen. Er durchforstete das soziale Medium fünf Jahre lang nach bestimmten HIV-Medikamenten und Schlüsselwörtern wie "Nebenwirkungen" oder verschiedenen Begriffen für Schmerzen und Beschwerden. Aus vierzig Millionen Kurznachrichten fischte ein Computerprogramm 1642 relevante Tweets heraus.

"Wir konnten für jedes Arzneimittel ein Profil erzeugen, das die Probleme sehr gut abbildet", erklärt Salathé. Der HIV-Wirkstoff Efavirenz etwa ging mit Schlafstörungen einher. Die Patienten twitterten über Albträume und darüber, dass sie nicht mehr durchschlafen könnten. Diese Nebenwirkungen sind zwar bekannt, aber Daten zu ihrer Häufigkeit fehlen. "Das Verfahren ist sehr schnell", sagt Salathé. Es gibt immer wieder Medikamente, die vom Markt genommen werden müssen. Die könnte man künftig per Twitteranalyse finden."

Auf Twitter setzt auch ein Frühwarnsystem für Lebensmittelvergiftungen aus den USA, das ein Team um den digitalen Epidemiologen John Brownstein gemeinsam mit dem Boston Children's Hospital entwickelt hat. Aus Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen nach dem Essen können lokale Behörden, die mit dem vollautomatisierten Computerprogramm arbeiten, eine sich anbahnende Vergiftungswelle herauslesen.

Schneller als üblich lassen sich so die Verursacher – oft Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulkantinen – ermitteln und schließen. Salathé entwickelt derzeit zudem eine App, bei der die Nutzer ihr Essen abfotografieren. Über moderne Methoden der Bilderkennung ermittelt eine Software, was auf dem Teller liegt. Dann bekommen die Konsumenten ein Feedback, ob darin zu viel Fett oder Zucker steckt. "Fast alle Massenerkrankungen unserer Zeit, ob Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes, sind über die Ernährung beeinflussbar", erklärt Salathé. Etliche Spitäler seien an der App interessiert, damit sie auswerten können, was ihre Patienten wirklich essen. Auch die Schlafgewohnheiten der Menschen haben die Erkunder der digitalen Datenwelt im Visier.

Eine Forschergruppe um Klaus Ackermann von der University of Chicago beobachtete von 2006 bis 2012 das Verhalten von Internetnutzern rund um den Globus. Dazu prüften die Wissenschaftler alle 15 Minuten, ob sich die Nutzer mit ihren Geräten im Netz an- oder abmeldeten. Eine Abmeldung abends werteten sie als Indiz dafür, dass die Person schlafen gehen wollte, eine Anmeldung morgens als Zeichen für Wachsein. So fanden sie typische Schlafmuster für mehr als 600 Städte weltweit: Generell war die nächtliche Schlafdauer in Großstädten länger als in den umgebenden Satellitenstädten. Und je nach Region änderte sie sich im Laufe der Jahre. In Europa sank sie, während sie in Ostasien eher zunahm. In Nordamerika blieb sie dagegen während des gesamten Untersuchungszeitraums weitgehend konstant.

Vereinigen Firmen all diese Informationen zum Ess- und Schlafverhalten mit Körpermessungen von Wearables, dürften sich völlig neue Einblicke in gesundheitliche Zusammenhänge ergeben. Noch ist dieser Schritt nicht gemacht. Aber erste Untersuchungen in diese Richtung zeigen bereits die Möglichkeiten auf. Eine Untersuchung zum Blutdruck von Nokia und dem US-amerikanischen Scripps Translational Science Institute etwa förderte interessante Muster zutage. Die mehr als 50000 Testpersonen in den USA und Europa trugen über mehrere Monate ein mobiles Blutdruck-Messgerät, das im Schnitt 146 Messungen übermittelte. Unter der Woche war der Blutdruck der Probanden im Schnitt höher als an den Wochenenden, im Winter lagen die Werte tendenziell über denen vom Sommer. Besonders überraschte, dass die Unterschiede bei Frauen stärker ausgeprägt waren als bei Männern. Die Daten könnten damit die Diagnose von Bluthochdruck verändern.

Zu viel des Guten? Epidemiologie basiert seit Jahr und Tag auf der Überwachung der Bevölkerung, stellt Salathé klar. Und solange man das Wearable ablegen, die App löschen und über die erhobenen Daten selbst bestimmen kann, sieht er kein Problem darin. "Facebook-Daten wären natürlich sehr interessant", sagt Salathé. "Sie sind aber nicht zugänglich, und die Menschen hätten wohl auch ein Problem damit, wenn ihre privaten Einträge plötzlich den Gesundheitsbehörden offenlägen."

Problematischer dürfte zum jetzigen Zeitpunkt eher die Aussagekraft der Daten sein. "Allein auf digitalem Weg lassen sich bisher keine repräsentativen Erhebungen durchführen", mahnt der Glücksforscher Kai Ludwigs von der Happiness Research Organisation. Die Nutzer sind eher männlich und mittleren oder jüngeren Alters, mitunter auch überdurchschnittlich gebildet. Dies legt auch eine weitere Studie französischer Forscher mit dem Blutdruck-Wearable von Nokia nahe. Unter den 19000 Teilnehmern fanden sich in erster Linie Männer, der Altersschnitt lag bei 50 Jahren. "Deshalb wird man künftig eine intelligente Mischung des analogen und digitalen Pfades benötigen", sagt Ludwigs. Vereinfacht gesprochen: Insbesondere bei älteren Frauen muss beispielsweise medizinisches Personal liefern, was andere schon per App oder Wearable übermittelt haben.

Aber je breiter die Technologien zum Einsatz kommen, umso aussagekräftiger wird das Bild. Um die Daten für eine bessere medizinische Versorgung zugänglich zu machen, schwebt Salathé ein Modell vor, das in der Schweiz bereits eingeführt ist: Dort gibt es die digitalen Genossenschaften midata.coop und healthbank.coop. Bürger, die ihre Gesundheitsdaten teilen und der Forschung zur Verfügung stellen wollen, können sie dort deponieren. (bsc)