Aufzug fährt um die Ecke

ThyssenKrupp entwickelt einen Fahrstuhl, der sich ohne Seil in alle Richtungen bewegt. Seit Kurzem kann jeder den Testturm besichtigen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 9 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Joseph Scheppach

Durch dicke Glasscheiben blicken wir in den Schlund. Er riecht nach kaltem Beton. Über 200 Meter geht es senkrecht nach unten. An der Wand: Spulen, Kabel, Kästen – und Schienen, die sich scheinbar im Unendlichen verlieren. An ihnen entlang gleitet mit fünf Metern pro Sekunde eine Aufzugskabine heran. "Functional mockup" ist mit blauer Farbe auf die Tür geschrieben.

8/2017

Das Testmodell stoppt, die Tür öffnet und schließt sich wieder – und dann nestelt Aufzugsentwickler Markus Jetter angespannt an seiner Brille. LED-Funzeln blinken aufgeregt, um den Clou der Liftfahrt anzukündigen. Eine Weiche am Leitgestänge dreht sich um 90 Grad. Applaus brandet auf, als die Kabine ihre Richtung ändert: von der Vertikalen in die Horizontale, quer durch den 21 Meter breiten Turm. Ohne Seil, wie von Geisterhand bewegt.

Vor Journalisten und Immobilienentwicklern aus aller Welt hat ThyssenKrupp den ersten voll funktionsfähigen, neuartigen Fahrstuhl namens Multi in seinem Testzentrum im baden-württembergischen Rottweil vorgestellt. Dort erprobt das Unternehmen seinen seillosen Aufzug in einem 246 Meter hohen Versuchsturm, der gleichzeitig Büros und Konferenzräume des deutschen Forschungs- und Entwicklungszentrums des Konzerns beherbergt.

Die Demonstrationsanlage in Rottweil zeigt Kabinen im Querverkehr.

(Bild: ThyssenKrupp)

Benutzen konnten die Besucher den Fahrstuhl zwar nicht, weil die nötige Genehmigung des TÜV noch fehlt. Aber man konnte zuschauen, wie er sich bewegt. Angetrieben wird der Lift von elektrischen Linearmotoren mit wandernden Magnetfeldern. Die Kabinen können unabhängig voneinander in horizontale Schächte wechseln und so Gebäude miteinander verbinden. "Wir haben die Konzepte des Transrapids und des Paternosters kombiniert", erklärt Chefentwickler Jetter.

Für die Erprobung und Zertifizierung des Multi sind drei von insgesamt zwölf Schächten reserviert. In dessen Spitze warnt ein Türschild: "Vorsicht. Quetschungsgefahr!" Wer einen Blick riskiert, erkennt die Bedrohung: ein 240 Tonnen schweres, meterhohes, rechteckiges Betonpendel, das hydraulisch bewegt wird, um Schwingungen von Hochhäusern zu imitieren.

"Bei uns sind viele Gebäude mit über 300 Metern Höhe im Bau", sagt ein aus Abu Dhabi eingeladener Journalist. "Da stößt die Seiltechnik allmählich an Grenzen. Unterwegs muss man ständig in neue Lifts umsteigen." Beim Multi hingegen sind der Höhe künftig keine Grenzen gesetzt. "Er hat das Potenzial, die Architektur großer Städte zu verändern", meint Antony Wood, Architekturexperte vom Illinois Institute of Technology.

Einer Stadt hat das Multiprojekt bereits seinen Stempel aufgedrückt: dem 1,4 Kilometer Luftlinie entfernten Rottweil. "Unsere historische Stadtkulisse wird durch das Turmdesign noch angehoben", schwärmt Oberbürgermeister Ralf Broß. Er hofft, dass der Turm "wie ein Magnet" neue Unternehmen anzieht – und auch Hunderttausende von Gästen.

Zum einen soll der 40.000 Tonnen schwere Stahlbetonturm selbst eine Attraktion werden: eine gezwirbelte Hülle aus Glasfasern wird ihm laut Plan bis Ende dieses Jahres das Aussehen einer weißen, gedrehten Zuckerstange verleihen.

Vor allem aber soll die Besucherplattform in 232 Metern Höhe die Touristenscharen anlocken – ist sie doch die höchste Aussichtsplattform in ganz Deutschland. Ab Sommer 2017 können sich Interessierte – zwischen Freitag und Sonntag – diesen Blick kaufen. Die acht Euro lohnen sich. Auf dem Balkon, hinter vier Meter hohen Scheiben, öffnet sich ein atemberaubendes 360-Grad-Panorama: die Schwäbische Alb, der Fernsehturm von Stuttgart. Und in der Ferne: die Alpen.

Die Aufzugstechnik bestaunen können künftige Besucher hinter Glas in der großzügigen Kundenlobby im Erdgeschoss. Am eigenen Leib erleben lässt sich eine Fahrt ganz ohne Seile zum ersten Mal erst 2020 im East Side Tower in Berlin. Dann soll der 142-Meter-Turm als eine neue Landmarke der Hauptstadt-Skyline erstrahlen. (bsc)