Big-Tech-Massenkündigungen: Die fetten Jahre sind vorbei

Big Tech hat mehr als 50.000 Mitarbeiter entlassen – viele Patagonia-Westen-Träger. Im Verhältnis zu vorherigen Einstellungen ist der Stellenabbau eher gering.

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Kumamoto,,Japan,-,May,29,2020,:,Gafam,Apps,On

Die GAFAM; inzwischen heißen die Unternehmen dahinter Alphabet, Amazon, Meta, Apple und Microsoft.

(Bild: Koshiro K / Shutterstock.com)

Stand:
Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Nils Jacobsen
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Grotesker Lifestyle: "Ein Tag im Leben einer 23-jährigen Produktmanagerin bei Meta", lautete der Titel eines 30-sekündigen Videos, das eine Mitarbeiterin namens Riley Rojas im vergangenen Herbst gepostet hatte – bezeichnenderweise bei TikTok, nicht bei Instagram. Rojas schien das Leben zu leben, wie es sein sollte: "Ich führe Tagebuch am Morgen. Dann gehe ich schnell zum Workout. Ich ziehe mich an. Ich versuche jeden Tag hübsch auszusehen." Es folgen Erklärungen zum Kaffee am Morgen und der Arbeit auf der Terrasse, einem Shuttle nach Hause, der tollen Aussicht und dem Dinner mit Freunden.

Das Video ging viral – nur nicht, wie Rojas gedacht hatte. Als wenige Wochen später von Meta als erstem Big Tech-Unternehmen Massenentlassungen verkündet wurden, wurde die 23-Jährige zum Sinnbild der vermeintlich verwöhnten Generation Z, die alles wollte – nur nicht hart arbeiten. Rojas wurde nicht gefeuert, wohl aber 11.000 andere Mitarbeiter, nachdem Meta-Chef Mark Zuckerberg im vergangenen November die ersten größeren Entlassungen in der 18-jährigen Firmengeschichte verkündete. Bei der Ansprache an die Belegschaft sah Zuckerberg aus, wie man ihn noch nicht wirklich gesehen hatte: zerknirscht, betreten, selbstkritisch – der 38-Jährige war alles, nur kein Bot, wie ihm so häufig vorgeworfen wird.

Der historische Moment in der Meta-Historie markierte eine bemerkenswerte Trendwende in der Geschichte einer erfolgsverwöhnten Branche, die seit der großen Finanzkrise von 2008/09 keinen Gegenwind verspürt hatte, sondern – im Gegenteil – sich im Sog der enormen Börsenhausse der 10er-Jahre in einer rauschenden Dauerparty zu befinden schien. Die Börsenkurse stiegen ins schier Unendliche, und mit dem Unternehmenswert stiegen auch die Möglichkeiten, immer neue Arbeitskräfte anzulocken und wieder mit Aktienoptionen zu entlohnen. "Big Tech explodierte während des 14-jährigen Wirtschaftsbooms", resümiert Marketing-Professor Scott Galloway die besten aller Zeiten und Welten für die IT-Industrie.

Noch deutlicher wurde Dan Ives in der Economic Times: "Die (Big Tech-)Unternehmen haben Geld ausgeben wie Rockstars in den 80er-Jahren", kommentierte der Investment-Analyst die Einstellungs-Exzesse der vergangenen Jahre. Seit Beginn der Coronapandemie haben die großen fünf US-Techkonzerne fast eine Million Arbeitsplätze geschaffen, wie das Finanzportal Marketwatch dokumentiert hat.

Allein Amazon stellte seit Anfang 2020 rund 750.000 neue Mitarbeiter ein und zählte per Ende des dritten Quartals 2022 1,54 Millionen Angestellte. Auch Meta verdoppelte die Belegschaft nahezu von 45.000 Beschäftigten Ende 2019 auf 87.000 Mitarbeiter per September 2022. Bei Microsoft und Alphabet verlief der Einstellungsrausch etwas gedämpfter mit Zuwächsen von 50 Prozent im Vergleichszeitraum der Pandemie: Bei Microsoft wuchs die Belegschaft von 144.000 auf 221.000 Mitarbeiter, bei Google von 119.000 auf 187.000 Beschäftigte. Nur der wertvollste Konzern der Welt stellte zurückhaltender ein: Bei Apple fingen zwischen Anfang 2020 bis Ende des vierten Quartals 2022 etwa 27.000 neue Kollegen an – ein Zuwachs von etwa 20 Prozent.

Dann endete die Party vor einem Jahr abrupt. Weil sich die Inflation in schwindelerregender Weise beschleunigte, sah sich die amerikanische Notenbank Federal Reserve zu den rigidesten Zinsanhebungen der vergangenen vier Jahrzehnte gezwungen, deren Folgen hinlänglich dokumentiert sind: Tech- und Internetaktien erlebten 2022 den schwersten Crash der Finanzkrise beziehungsweise teilweise seit dem Platzen der Internetblase im Jahr 2000.

In der Spitze fünf Billionen Dollar an Unternehmenswert wurden bei den Big-Tech-Konzernen im vergangenen Jahr an der Wall Street ausradiert. Die Reflexe nach dem Absturz aus dem Himmel sind auch diesmal die gleichen wie bei der vergangenen Krise: Damit die Unternehmensbilanzen schnell wieder besser aussehen, wird Mitarbeitern gekündigt.

"Entlassungen sind schlecht für die Unternehmensmoral und noch schlimmer für diejenigen, die gefeuert werden, aber sie sind oft gut fürs Geschäft", erklärt Scott Galloway den Mechanismus hinter den Massenentlassungen in der amerikanischen Technologieindustrie. "Der durchschnittliche Tech-Mitarbeiter kostete seinen Arbeitgeber im Jahr 2022 mindestens 100.000 US-Dollar an Gehalt zuzüglich Sozialleistungen und Verwässerungseffekten. Sagen wir 150.000 US-Dollar." Weniger Menschen bedeuteten wesentlich mehr Gewinn pro Aktie. Google und Meta könnten also bei einer Bruttomarge von 30 Prozent entweder jeweils 25.000 Mitarbeiter entlassen oder ihren Umsatz um 12,5 Milliarden US-Dollar steigern und das gleiche Betriebsergebnis verzeichnen, rechnet der Marketing-Professor vor. "Sie und Hunderte anderer Technologieunternehmen werden sich für eine erstere Version entscheiden."

In realen Zahlen belaufen sich die Kündigungen bei den sogenannten GAFAM-Konzernen (Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft) in den vergangenen Monaten inzwischen auf mehr als 50.000 Entlassungen. Allein in den vergangenen Tagen kündigte Google-Mutter Alphabet 12.000 Beschäftigten, Microsoft 10.000 Angestellten, Amazon weiteren 8.000 Mitarbeitern, nachdem bereits im vergangenen November die Rede von 10.000 Entlassungen war. Meta hatte seinerzeit die Trennung von 11.000 Angestellten verkündet.

Und das sind nur die Entlassungen bei den fünf US-Techgiganten. Auch andere Techkonzerne folgen den GAFAMs und haben in den letzten Wochen Kündigungen im großen Stil verkündet: Beim CRM-Riesen Salesforce fallen 7000 Jobs weg, bei IBM und Cisco etwa 4000 Arbeitsplätze, bei der Crypto-Plattform Coinbase werden 2000 Stellen gestrichen, während bei Spotify 600 Angestellte ihre Beschäftigung verlieren. Analysten sagten voraus, dass das Wachstum im Silicon Valley nicht ewig weitergehen könne. Trotzdem überrascht das Ausmaß der Kürzungen jetzt viele.

Gleichzeitig erscheinen die Kündigungen in der Technologiebranche im Verhältnis zum vorherigen Einstellungsboom signifikanter als sie tatsächlich sind. "Durch die Entlassungen im Technologiebereich geht das Beschäftigungsniveau gerade wieder auf das von vor sechs bis zwölf Monaten zurück. Es ist mehr Spektakel als es Bedeutung hat", ordnet Galloway den Aderlass ein, den er ironisch die "Patagonia-Westen-Rezession" nennt, weil sie viele Gutverdiener der Generation Z oder Millennials betreffe.

Entsprechend sei die Kündigungswelle nicht überzubewerten und makroökonomisch nicht zu verallgemeinern, findet etwa auch Russell Hancock, Chef des Research-Unternehmens Joint Venture Silicon Valley. "Ich sehe keine Anzeichen einer Pleitewelle. Ich sehe nicht einmal Anzeichen für einen Abschwung oder, Gott bewahre, eine Rezession im Silicon Valley, erklärt Hancock gegenüber Marketwatch. "Ich sehe, dass Unternehmen Anpassungen an der globalen Belegschaft vornehmen, aber das sind marginale Anpassungen."

Vor allem haben die Kündigungen nichts mit dem vermeintlichen Siegeszug der künstlichen Intelligenz zu tun, der jüngst durch den ChatGPT-Hype heraufbeschworen wird. Gerade Microsofts erneutes Milliarden-Investment in die ChatGPT-Mutter OpenAI sieht am gleichen Tag, als die Streichung von 10.000 Stellen verkündet wird, zwar sehr unglücklich aus, führt aber kausal in die Irre. Nicht KI ersetzt Mitarbeiter. Die Entlassungen bei Microsoft und anderen Technologieunternehmen haben viel mehr mit den aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen zu tun als mit den jüngsten KI-Durchbrüchen.

Entsprechend dürfte sich der Fokus bald wieder auf die Unternehmensentwicklung selbst richten. In den kommenden Handelstagen legen mit Meta, Apple, Alphabet und Amazon gleich vier der Big-Tech-Konzerne ihre Bilanzen für das abgelaufene Quartal und Gesamtjahr vor. Nach den Kündigungskorrekturen dürften Mark Zuckerberg, Googles Sundar Pichai und Amazons Andy Jassy das Augenmerk schnell wieder auf das Business as usual lenken: das neue Geschäftsjahr. Nur Apple hat es wieder einmal besser: Tim Cook musste als einziger Big-Tech-CEO bislang noch keine Entlassungen verkünden – nicht zuletzt, weil der iPhone-Hersteller vorausschauender eingestellt hatte.

(emw)