Bis zum letzten Tropfen

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Erst die Erfindung des Verbrennungsmotors legte die Grundlage für den gewaltigen Öldurst, der ab etwa 1880 durch gezielte Exploration und Förderungen größerer Mengen Öls in Nordamerika gestillt wurde – und der bis heute anhält. Zwischenzeitlich deckte Öl mehr als 50 Prozent des globalen Primärenergiebedarfs. Dieser Wert ist allerdings mit der ersten Ölkrise 1973 wieder gesunken und liegt derzeit bei etwa 36,4 Prozent. Von wenigen Ausnahmen abgesehen aber treiben Erdölprodukte noch immer den gesamten Individualverkehr auf dem Globus an. Rund 50 Prozent des jährlich geförderten Öls landen heute, raffiniert zu Benzin oder Diesel, in den Tanks von Autos, Lastwagen und Bussen oder befeuern in Form von Kerosin den Luftverkehr.

In seiner Grundform ist Öl ein flüssiges Gemisch von Kohlenwasserstoffen mit 5 bis 30 Kohlenstoffatomen pro Kette oder Ringsystem, das eine Dichte zwischen 0,8 bis 0,934 Gramm pro Kubikzentimeter aufweisen muss, wenn es als klassisches „crude oil“ den Markt erreichen soll. Traditionell wird es in Einheiten von Blue Barrel (bbl) mit knapp 159 Litern Fassungsvermögen gehandelt; die Tonne Erdöl entspricht also etwa 7,35 Barrel. Zurzeit verbrennt die Welt jährlich etwa 3,8 Milliarden Tonnen dieses Rohstoffs.

Die große Frage lautet: Wie lange noch? Bei den Antworten herrscht ansehnliche Begriffsverwirrung. Mit am kritischsten ist die Unterscheidung zwischen „Reserven“ und „Ressourcen“. Ersteres bezeichnet die Menge an Kohlenwasserstoffen, die in einer Lagerstätte nachgewiesen sind und mit bekannter Technologie wirtschaftlich gefördert werden können. Die weltweiten Reserven an konventionellem Erdöl werden derzeit auf etwa 160 Milliarden Tonnen beziffert – selbst bei nur konstantem Verbrauch wäre demnach um das Jahr 2050 herum die letzte Ölquelle versiegt.

Ein paar zusätzliche Jahre könnte uns die Erschließung von sperrigeren Reserven schenken: In Form von Ölsanden, Schweröl, Schiefer und Bitumen stehen nach Schätzungen weitere 67 Milliarden Tonnen Öl zur Verfügung, die allerdings weitaus schwieriger zu fördern und zu transportieren sind als flüssiges Crude.

Vor diesem Hintergrund wirkt es nicht eben beruhigend, dass die weitaus meisten Reserven in Staaten des Nahen Ostens lagern, die nicht nur instabil sind oder zu werden drohen, sondern mit ihrem Öl auch Politik machen. So ist aus den Daten des statistischen Jahrbuchs von BP ablesbar, dass die Reserven der OPEC-Staaten im Mittleren Osten 1985 sprunghaft angestiegen sind. Ein Umstand, der sich nach Ansicht von Öl-Pessimisten nur dadurch erklären lässt, dass die OPECFörderländer zu diesem Zeitpunkt beschlossen hatten, ihre Produktionsquoten an die jeweiligen Reserven zu koppeln. Im Januar 2006 berichtete zudem die Fachzeitschrift „Petroleum Intelligence Weekly“, dass Kuwaits Reserven lediglich 48 Milliarden Barrel betrügen und davon nur 24 wirklich nachgewiesen seien – halb so viel wie offiziell behauptet. Das Blatt stützte sich dabei auf geheime Dokumente, die aus dem Staat geschmuggelt worden seien.

Zum Glück für die Weltwirtschaft aber liegt den Reserve- Rechnungen eine unrealistische Annahme zugrunde: „Wir wissen, dass bei den börsennotierten Unternehmen ein Grenzwert von circa 25 Dollar pro Barrel für die Wirtschaftlichkeit zählt“, sagt Peter Gerling, Leiter des Referats Energierohstoffe in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR). Alles oberhalb dieses Preises gehört zu den Ressourcen. Zu denen zählen sowohl bekannte Vorkommen, die nur mit höherem finanziellen Aufwand ausgebeutet werden können, als auch solche, die aufgrund von geologischen Untersuchungen in einem bestimmten Gebiet erwartet werden können. Stärker als bei den Reserven muss hier mit Extrapolationen und Vermutungen gearbeitet werden, und so ist es kein Wunder, dass die Ergebnisse verschiedener Berechnungen stark variieren. Kenneth Deffeyes etwa, emeritierter Geologieprofessor und Autor mehrerer Bücher zum Thema Peak Oil, traut der ganzen Welt nur ein „Gesamtpotenzial“ – die kumulierte Förderung, die Reserven und die Ressourcen – von etwa 270 Milliarden Tonnen Öl zu. Rund die Hälfte davon wurde bereits verbraucht, sodass nur noch Öl für weitere 35 Jahre bliebe. Der Peak läge demnach längst hinter uns – überschritten wurde er laut Deffeyes „ohne großes Aufsehen“ zu Erntedank 2005.

Am mutigeren Prognose-Pol ist die Internationale Energieagentur IEA angesiedelt: Sie sieht noch Ölvorkommen von rund 315 Milliarden Tonnen im Boden. Bei konstanter Nachfrage würde das noch für etwa 80 Jahre reichen. Irgendwo in der Mitte liegt die deutsche BGR, die noch 245 Milliarden Tonnen Öl für förderbar hält; der letzte Tropfen Öl würde dann im Jahr 2070 aus der Erde geholt.

35, 65 oder 80 Jahre, und dann ist Schluss? „Alles Unsinn“, sagt NPD-Berater Wiborg, „es gibt keine Knappheit an Rohöl. Es gibt höchstens Engpässe in der Verarbeitungskapazität von schwerem und saurem Öl.“ Er springt auf, geht zu einer Weltkarte, die an der Wand seines Büros hängt. „Schauen Sie sich diese Karte an: Sibirien. All diese Felder sind entlang der Eisenbahnlinien und bei den alten russischen Straflagern. Oder das russische Kontinentalschelf in der Arktis. Das Wasser hier ist nicht tiefer als 200 Meter. Okay, es gibt Eis da. Aber bereits 1974 gab es Überlegungen, hier Öl zu fördern und mit Atom- U-Booten abzutransportieren. 1974 ist hier Öl gefunden worden, das noch immer nicht gefördert wird. Es gibt viele Kohlenwasserstoffe da draußen. Ob sie gefördert werden, hängt nur vom Preis ab.“

Die Fachleute in der BGR sind da jedoch ganz anderer Meinung. Wie die meisten Geologen glauben sie, dass das Erdöl vor Millionen Jahren aus abgestorbenen Meeresorganismen entstanden ist. Aus dieser sogenannten „biogenetischen“ Theorie folgt, dass die Suche nach neuen Ölfeldern nur in wenigen ausgewählten Bereichen zum Erfolg führen kann.

EINGESCHRÄNKTER SUCHRAUM

„Wir kennen die Situation der Sedimentbecken weltweit sehr gut – und damit auch die Begrenztheit der möglichen Vorkommen“, sagt Bernhard Stribrny, als Präsident der BGR Deutschlands oberster Öl-Experte. „Die offenen Meere, die großen Ozeane, das ist durch die Kontinentaldrift neu gebildete ozeanische Kruste. Das sind magmatische Gesteine, die absolut steril sind.“ Maximal zehn Prozent der Gesamtfläche der Weltmeere kämen überhaupt für eine Exploration in Frage. Und viel davon sei schon abgegrast, ergänzt Referatsleiter Gerling: „Im Bereich des Atlantiks, im Golf von Mexiko, vor Brasilien, Offshore von West-Afrika sind etwa zehn Milliarden Tonnen Öl nachgewiesen. Bestenfalls erwarten wir in den Randregionen des Atlantiks, die noch nicht exploriert sind, noch einmal zehn Milliarden Tonnen – aber das schließt dann schon die Arktis mit ein. Alle anderen Kontinentränder, im Pazifik oder im Indik, die sind eher gashöffig. Als große Unbekannte bleiben die zirkumarktischen Regionen der Arktis und Antarktis.“

Auch was die Onshore-Möglichkeiten angeht, sind die BGR-Experten skeptisch. „Die Kerne der alten Kontinente sind alte kristalline Schilde, die überhaupt nicht für Kohlenwasserstoffe in Frage kommen“, sagt Gerling. „Und vielleicht mal abgesehen vom arktischen Bereich oder Ostsibirien sind die Sedimentbecken dort längst erbohrt. Natürlich wird man neue Lagerstätten finden, jedoch erwarten wir keine großen Überraschungen mehr in Form von Mega-Lagerstätten. Diese Erwartungen gründen sich auf die Tatsache, dass in nur einem Prozent der Ölfelder – und das sind natürlich die riesengroßen Felder – 75 Prozent des Öls ist. Und Sie können sich vorstellen, dass diese Riesen-Ölfelder viel leichter zu finden sind.“

Haben die Pessimisten also doch recht? Immerhin kann die Menge des neu entdeckten Öls seit 1980 den Verbrauch nicht mehr ausgleichen. Das allerdings liegt nicht unbedingt an den Umständen, sondern an den Prioritäten: Explorationen sind aufwendig und teuer. Also konzentrieren sich die Ölkonzerne so lange sie können darauf, die Produktionskosten zu senken und mehr aus den bestehenden Quellen herauszuholen.