"Datenschutz greift nicht mehr"

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Schramm: Weil zum einen alles, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert wird. Und es besteht die Möglichkeit, diese Daten zusammenzuführen, auszuwerten auf eine Art, die es vorher einfach nicht gab. Das kann durchaus Vorteile haben, zum Beispiel in der Forschung. Aber es hat natürlich auch negative Auswirkungen, etwa dass jemand Personenprofile erstellen kann. Und da entsteht die Frage, wie geht man damit um?

Kurz: Mir kommt es vor, als wenn die Debatten jenseits von Facebook, zum Beispiel über die Computerwanze oder die Vorratsdatenspeicherung, plötzlich gar keine Rolle mehr spielen. Hauptsache, ich kann Facebook klicken.

Schramm: Das ist polemisch.

Kurz: Natürlich ist das polemisch. Das hier ist ein Streitgespräch.

Schramm: Aber es ist doch völlig verkürzt. Der Punkt ist doch, dass gewisse Privatsphärevorstellungen nicht mehr funktionieren.

Kurz: Was sind denn diese gewissen Privatsphärevorstellungen?

Schramm: Na ja, zum Beispiel bei Politikern, dass deren Privatleben strikt abgegrenzt sein soll.

Kurz: Ist das eine Vorstellung, von der wir uns verabschieden müssen?

Schramm: Ja. Ein Beispiel: Angela Merkel feiert ein Fest...

Kurz: ...im Bundeskanzleramt und lädt den Deutsche-Bank-Chef ein?

Schramm: Nein, gar nicht mal im Bundeskanzleramt.

Kurz: Nein? Zu Hause?

Schramm: Die macht das zu Hause. Und sie lädt jetzt Herrn Ackermann, den RWE-Chef Großmann oder wen auch immer dazu ein.

Kurz: Was man so macht als Kanzlerin.

Schramm: Mit wem man halt so rumhängt als Kanzlerin, ja. So, die redet dann mit denen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass da politische Entscheidungen vorbereitet werden. Fällt dieses Gespräch jetzt unter Privatsphäre?

Kurz: Ah, okay, diese Richtung. Das heißt also, mächtige Politiker dürfen eine bestimmte Form von Privatsphäre nicht haben? Nehmen wir mal an, Angela Merkel wäre mit dem Ackermann persönlich befreundet, dann ginge auch kein Treffen mehr auf der Datscha, weil sie politische Gespräche führen könnten? Das wäre doch absurd. Selbst für Politiker, deren politische Linie ich vollkommen ablehne, würde ich verteidigen wollen, dass sie ein Privatleben haben dürfen. Ich erlebe das oft in diesen Diskussionen. Man nimmt sich ein konkretes Beispiel vor, und dann zerbröselt die Utopie, für die ich durchaus Sympathien habe. Nimmt man das konkret, zerlegt sich das ganze Konzept, einfach weil es einen Kern der Lebensgestaltung gibt, auf den jeder Mensch ein Recht hat – die Privatsphäre.

TR: Frau Schramm, welche positiven Erwartungen knüpfen Sie denn an ein Leben ohne Privatsphäre?

Schramm: Für mich ist das einfach eine Auseinandersetzung mit mir selbst und meiner Umwelt. Ich will gewisse Dinge, die mir nahegehen oder die für mich persönlich bedeutsam waren, nach außen tragen. Ich will ehrlich und authentisch sein und mein Inneres nach außen kehren. Das hat für mich persönlich eine Form von therapeutischer Wirkung. Ich stehe offen dazu, dass ich Depressionen hatte, ja. Ich will, dass Menschen erfahren, dass sie mit mir darüber reden können. Ich habe so viele Menschen erlebt, die Sachen in sich rein fressen. Und ich habe schon oft erlebt, wenn ich post privacy agiert habe, dass diese Menschen sich mir öffneten.

Kurz: Die Frage war eigentlich, was ist die konstruktive Idee? Und was haben wir gehört? Dass es eine schöne Sache ist, wenn man sein Scheitern, seine Freude, seine Gefühle über das Netz teilen kann. Ich denke, das wird erst mal jeder unterschreiben. Aber das ist noch kein konstruktiver Ansatz, was man mit Post Privacy eigentlich erreichen will.

Schramm: Es geht um konkrete politische Forderungen, das habe ich vorhin schon gesagt: Krankenkasse, soziale Grundsicherung ohne Durchleuchtung, also bedingungslos, und staatliche Infrastruktur, das heißt Wasser-, Gas-, Strom-, Kommunikationsnetze in staatlicher Hand und für alle.

Kurz: Wasser, Gas, Netze. Jetzt kommen wir irgendwie in eine andere Debatte.

Schramm: Na, aber meine Güte, das sind die konkreten Strukturen, aus denen Datensammlungen entstehen, die wiederum zu individuellen Profilen aggregiert werden können. Und mit denen werden Menschen erpressbar. Aus dieser Situation heraus muss man sich überlegen, wie können wir diesen Menschen trotzdem die Möglichkeit geben, sich frei zu entfalten? Zum Beispiel sexuell: Es gibt Studien, die nachweisen, dass Homosexuelle weniger verdienen. Konsequenz daraus: Niemand darf erfahren, dass sie homosexuell sind. Aber das ist komplett falsch. Da werden Personen gezwungen, ihr wahres Ich zu verstecken, weil sie sonst weniger Geld bekommen.

Kurz: Da gehen wir nicht an das Problem Datensammlungen ran, sondern wir nivellieren stattdessen die sozialen Verhältnisse?

Schramm: Ja, wir müssen an die sozialen Verhältnisse ran. Nach dem Motto "Offenheit entwaffnet" mache ich meinen gesellschaftlichen Makel öffentlich und bin dann nicht mehr erpressbar. Funktioniert das so?

Schramm: So ungefähr.

Kurz: Das ist durchaus eine positive Idee. Man ist sozusagen Role Model, man hat es irgendwie geschafft, mit dem Makel klarzukommen. Aber gerade in Situationen, in denen ich das Bedürfnis habe, es anderen mitzuteilen, denke ich nicht unbedingt an die Probleme, die ich in fünf Jahren damit haben könnte.

TR: Ist diese Offenheit eine Generationenfrage? Gehen junge Leute anders mit ihrer Privatsphäre um?

Kurz: Das ist immer so eine Behauptung. Denen ist so oft dieses Beispiel mit dem Arbeitgeber und den Partyfotos in der Schule erzählt worden, dass sie das längst wissen und deshalb schon drei verschiedene Facebook-Accounts haben. Die sind ja nicht blöd.

TR: Ist das eine Lösung? Wenn die Datenschutzgesetze mich nicht schützen, dann habe ich halt fünf Accounts unter verschiedenen Pseudonymen?

Kurz: Kann man machen.

Schramm: Ich finde das super.

TR: Hilft das?

Kurz: Also das glaube ich natürlich nicht...

Schramm: Ich auch nicht.

Kurz: …weil es bei den großen Monopolisten unter den sozialen Netzwerken die Tendenz gibt, diese Form der pseudonymen oder anonymen Nutzung mit Rücksicht auf die zahlenden Werbekunden zu streichen. Ich denke, die werbende Wirtschaft, die Facebook-Daten kauft, möchte schon wissen, mit wem sie es zu tun hat. Das ist ja der Sinn der Sache.

Schramm: Und gleichzeitig gibt es natürlich das Problem, dass man die Daten, die von einzelnen Nutzern unter verschiedenen Namen eingespeist werden, sehr gut zusammenführen kann.

TR: Eine Studie hat gezeigt, dass man nur über die Freundesliste die sexuelle Orientierung einer Person bestimmen kann, also unabhängig vom Namen, wo sie wohnt oder wie auch immer.

Kurz: Das stimmt, diese hier angesprochene Gaydar-Studie hat gerade in den USA die Debatte über Post Privacy befeuert.

TR: Welche positiven Utopien verfolgen Sie beide?

Schramm: Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, in der die Menschen keine Angst vor Diskriminierung haben müssen. Entweder weil diese Diskriminierung nicht stattfindet, oder weil sie keine wirtschaftlichen beziehungsweise sozialen Repressionen nach sich zieht. Das heißt, dass jeder sagen kann, ich bin schwul, ich bin spielsüchtig, ich bin… egal was, ohne dass es seine Existenz bedroht, ohne dass diese Person Angst haben muss, das Dach überm Kopf zu verlieren, nichts zu essen zu haben, ohne Krankenversicherung dazustehen.

TR: Und wie sieht die positive Datenschutz-Utopie aus?

Kurz: Da sind für mich mehrere Sachen wichtig: Zunächst würde ich mir eine sehr aufgeklärte Gesellschaft wünschen, die in der Mehrheit aus Leuten besteht, die sich um fundamentale Bürgerrechte – zum Beispiel das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – mehr Gedanken machen. Diese digitale Mündigkeit hätte ich gern als funktionierendes Konzept.

Natürlich würde bei mir auch soziale Gerechtigkeit dazugehören. Aber wichtiger wäre für mich eher die Aufklärung im Sinne von Kant, dass man immer informiert entscheidet und alle Entscheidungen danach abwägt, dass sie anderen nicht schaden, sondern positiv wirken. Weil ich nämlich glaube, dass wir die Technik zum Positiven nutzen können. Ich habe einfach keine Lust, in eine Gesellschaft hineinzuwachsen, in der alle nur noch auf Werbeplattformen abhängen und sich nur noch als Konsumenten sehen oder als Wirtschaftssubjekte. Ich wünsche mir aufgeklärte, digital mündige Bürger. Denn wer seine Grundrechte nicht ausübt, verliert sie. (wst)