Der Fanatiker

Seite 2: Der Fanatiker

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Sinclairs Antrieb kommt laut eigenen Angaben von seiner Großmutter Vera, die 1956 nach der gescheiterten Revolution aus Ungarn nach Australien floh. Ihr Sohn, Sinclairs Vater, änderte seinen Namen und nannte sich künftig nicht mehr Szigeti. "Meine Großmutter war das rebellische schwarze Schaf der Familie. Sie bekam meinen Vater 1939 im Alter von 15 Jahren – was das für ein Skandal gewesen sein muss." Die resolute Dame lebte dann unter anderem mit den Ureinwohnern von Neuguinea und aß schon einmal Menschenfleisch. "Sie hatte auch schon einmal Ärger mit der Polizei, weil sie die erste Frau war, die es wagte, am Strand von Sydney einen Bikini zu tragen." Großmutter Sinclair war ein Sixties-Bürgerschreck und half außerdem bei Davids Erziehung. "Sie hat mir beigebracht, anders als andere zu denken und Dogmen zu hinterfragen."

Sinclair, ein schmächtiger Mann mit oft spitzbübischem Grinsen, wuchs in St. Ives nahe Sydney auf, wo er als Junge Bomben aus Chlor oder Schießpulver bastelte, um Gegenstände in die Luft zu jagen. "Ich war rebellisch und ziemlich gefährlich. Das war mein Kick. Ich war wohl recht gelangweilt." Mit sieben Jahren schrieb er eine Liste mit 10 Dingen, die die Welt verändern würden – und eine Sache davon war die Idee, Dinge zu erfinden, um Geld zu verdienen. Später versuchte er sich als Windsurfer und Rennfahrer. Sinclair beging so viele Geschwindigkeitsübertretungen, dass ihm eines Tages sein Führerschein abgenommen wurde. "Er war immer ziemlich vorlaut und konnte einem schnell unter die Haut gehen, wenn er nur genug von einem wusste", meint Mark Sumich, sein bester Jugendfreund.

"Der Tag, an dem ich in meinem Leben bislang die meiste Angst hatte, war wohl der, an dem mir David den neuen Bogen seines Bruders gezeigt hat", erinnert sich Sumich, der heute eine Marktforschungsfirma in Australien besitzt. "Wir gingen hoch in den Park und er schoss den Pfeil immer direkt gerade in den Himmel. Als wir ihn dann nicht mehr gesehen haben, verzogen wir uns schnell ins Unterholz. Das war bis zum heutigen Tag die größte Dummheit, die ich je begangen habe."

Sinclair ging auf die University of New South Wales und erforschte dort unter anderem die Genregulierung bei Hefe. Während einer Unterhaltung mit Leonard "Lenny" Guarente, einem Molekularbiologen am MIT, der in Australien Vorträge hielt, lernte er die Altersforschung kennen. Zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1993 glaubten die meisten Forscher, dass der Alterungsprozess komplex und unaufhaltsam sei und sich nicht mit ein paar Genen regulieren ließe. In diesem Jahr brachte allerdings auch die Biologin Cynthia Kenyon von der University of California in San Francisco eine Studie heraus, die zeigte, wie sich ein einzelnes Gen namens "Daf2" manipulieren ließ, um die Lebenserwartung eines kleinen Rundwurms zu verdoppeln. Guarente selbst begann dann mit Experimenten an Hefepilzen, die schließlich zur Entdeckung des Anti-Alterungsgens "Sir2" im Jahr 1995 führte.

Das Forschungsfeld war allerdings noch so neu und unbewiesen, dass Guarante nur informell darüber sprach – so eben auch, als der junge australische Wissenschaftler Sinclair neben ihm bei einem großen Essen saß. "Das war ein Geschenk des Himmels", meint er heute. Mit dieser Inspiration im Gepäck entschloss sich Sinclair, seinen Mazda zu verkaufen, um sich ein Ticket nach Boston zu besorgen, wo er in Guarentes Labor als Postdoc anheuern wollte. Beim Vorstellungsgespräch gab er eine engagierte Präsentation an der Tafel, bei der er argumentierte, dass Wissenschaftler, die den Alterungsprozess untersuchten, doch besser nach Genen und Mechanismen suchten, die das Leben verlängerten – im Gegensatz zu solchen, die es beendeten. Er bekam den Job.