Der Junge Mann und das Meer

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Hier kommt Slats neue Idee: "Warum sich durch die Ozeane bewegen, wenn sie es doch für dich tun?" Sein Array bleibt an einem Ort im Wirbel und siebt das Plastik aus dem strömenden Wasser heraus – ähnlich wie eine Muschel, die Nahrung aus der Strömung filtert. Dass die Idee im Prinzip funktioniert, haben Slat und sein Team mit einer 40 Meter großen Pilotanlage auf den Azoren gezeigt. Die Filterarme fischten all das Plastik heraus, das Slat ins Wasser warf.

Die realen Verhältnisse machen die Aufgabe allerdings ungleich schwerer. Nicht alle Plastikarten treiben oben. Manche sinken auf den Grund, und ein Teil schwebt irgendwo in der Wassersäule. Die Sammelarme reichen aber nur drei Meter tief. Um zu wissen, wie viel tatsächlich hängen bleiben würde, hat Slat die Plastikkonzentrationen im Nordatlantikwirbel in verschiedenen Tiefen gemessen. Ergebnis: Der Hauptmasseanteil des Plastiks schwimmt in den oberen drei Metern. "Und dieses Plastik ist auch das entscheidende", sagt er, "weil es in die Nahrungskette gelangt." Mithilfe aufwendiger Computersimulationen der komplexen Strömungsverhältnisse hat Slat errechnet, dass seine Anlage innerhalb von zehn Jahren etwa 70000 von den geschätzten 140 000 Tonnen im Nordpazifikwirbel herausfischen könnte.

Mithilfe der Simulationen hat Slat auch schon die perfekte Stelle für sein Ocean Cleanup Array ausgemacht: im Nordpazifik, 30° N, 138° W, 1660 Kilometer vor der Küste San Franciscos. Dort ist der Ozean zwischen 2000 und 4900 Meter tief. Die Verankerung am Grund sei aber kein Problem, meint er. Schließlich hätten Ölförderunternehmen bereits Tiefen von 2500 Metern gemeistert. Die gesamte Anlage inklusive Betrieb für zehn Jahre soll 317 Millionen Euro kosten. Das macht 4,53 Euro pro Kilo beseitigtes Plastik. So viel wird auch für Strandsäuberungen veranschlagt.

Doch nicht jeder ist von der Idee begeistert. Stiv Wilson, Pressesprecher der Umweltorganisation 5Gyres, die sich seit vielen Jahren mit der Problematik beschäftigt, Strandsäuberungen organisiert und für einen verantwortungsvolleren Umgang mit Plastik kämpft, ätzt in einem langen Beitrag gegen Slats Konzept. Es sei ein Luftschloss, genau wie die vielen anderen Säuberungskonzepte vor ihm. Sie alle seien aufgrund der gewaltigen Größe der Ozeane zum Scheitern verurteilt und lenkten nur von der viel wichtigeren Aufgabe ab: die Plastikvermüllung von vornherein zu verhindern.

Slats Konzept verschaffe der Kunststoffindustrie ein Feigenblatt, um genauso weiterzumachen wie bisher. Außerdem würden die Wirbelströme früher oder später das Plastik ausstoßen. Daher könne man es genauso gut am Strand aufsammeln, wie es zahlreiche NGOs bereits tun. Man könnte darüber hinaus Fischern Anreize bieten, Plastikmüll zu entsorgen. Die Initiative "Fishing for Litter" beispielsweise ermuntert Fischer in Nord- und Ostsee dazu, den unerwünschten Plastikbeifang im Hafen zu entsorgen. "Waste Free Oceans" bezahlt ihnen sogar 300 Euro pro Tonne gesammelten Plastikmülls.

Weitere Kritikpunkte Wilsons: Das Plastik sei von zu schlechter Qualität und nicht mehr verwertbar. Zudem sei Slats Array eine Gefährdung für Plankton und Fische. Wilson steht nicht allein. Mehrere Ozeanforscher veröffentlichten als Reaktion auf Slats Vorschlag eine Sammlung von "Leitlinien für Erfinder von Ozeansäuberungssystemen", in denen sie diese und noch andere Punkte ansprachen. "Für mich war die Machbarkeitsstudie die Antwort auf alle Kritik", sagt Slat ruhig. Minutiös handelt er auf den 528 Seiten jeden Einwand mithilfe wissenschaftlicher Belege ab. An der Studie haben viele Wissenschaftler mitgearbeitet. Ozeanografen und Offshore-Ingenieure haben sie geprüft und für valide befunden. Aufgrund ihres Umfangs werde sie zwar kein wissenschaftliches Fachmagazin komplett veröffentlichen können, sagt Slat. Manche Teile daraus werde er aber separat einreichen.

Seine Antworten auf die Kritik zusammengefasst:

- Fische und Plankton schlüpfen unter dem Vorhang hindurch. Nur sehr wenig Biomasse wird im Filter landen.

- Die Filteranlage beeinträchtigt die Seefahrt nicht. Das Array schwimmt außerhalb der Wirtschaftszonen. Schiffe müssen einen Umweg von maximal 700 Metern machen.

- Die Qualität des Plastiks ist laut Laboranalysen besser als erwartet. Es lässt sich in Dieselöl für Tanker umwandeln.

- Der CO2-Fußabdruck des Arrays entspricht maximal der Produktion von 1400 Autos.

- Die Wirbeldriftströme stoßen nur einen sehr kleinen Teil des Plastiks aus.

Aber auch Slat weiß, dass sein Array nicht dauerhaft als Kläranlage der Meere dienen kann. "Ich habe immer gesagt, dass vor allen Dingen die Müllvermeidung unbedingt notwendig ist." Hier tut sich immer mehr: Forscher entwickeln beispielsweise Kunststoffe, die schneller abbaubar sind als bisher. Dazu gehört auch "Mater-Bi", ein Kunststoff aus Pflanzenölen, Zucker, Stärke und Erdöl.

Es besitze gleiche Eigenschaften wie Polyethylen und eigne sich daher perfekt als Verpackungsmaterial und Wegwerfplastik, verspricht der Hersteller, die italienische Firma Novamont. Es soll innerhalb weniger Monate vollständig kompostierbar sein, aber das vielleicht Wichtigste im Gegensatz zu so vielen anderen vergleichbaren Bioplastik-Produkten: Mater-Bi zersetzt sich nicht nur an Land, sondern auch im Meerwasser – innerhalb von 200 Tagen soll der Hauptteil abgebaut sein. Der Haken: Es ist dreimal so teuer wie herkömmliches Polyethylen. Auch der Gesetzgeber greift ein. Die Europäische Union will den Verbrauch von Plastiktüten regulieren und um 80 Prozent senken. In der EU werden jährlich etwa 100 Milliarden Einwegplastiktüten verwendet, acht Milliarden landen im Meer.

Die Vermeidungsstrategien scheinen bereits erste Erfolge zu zeigen. Das jedenfalls legte eine im Jahr 2010 veröffentlichte Studie im Fachmagazin "Science" nahe. Forscher um Kara Lavender Law der Woods Hole Oceanographic Institution hatten darin das Ausmaß der Plastikmüllbelastung im Nordatlantik und der Karibik untersucht – von 1986 bis 2008. Das überraschende Ergebnis: Die Menge des Plastikmülls im Meer war zwanzig Jahre lang nahezu konstant geblieben, obwohl sich die Produktion in den USA zwischen 1978 und 2008 verfünffacht und die Müllmenge vervierfacht hatte. Im Ozean hätten sich also auch Zunahmen finden müssen.

Bezeichnend war, dass Lavender Law und ihre Kollegen deutlich weniger Plastikpellets im Ozean fanden. Dieser industrielle Basisstoff für viele Endprodukte wurde früher häufig beim Verladen von Schiffen ins Meer geschüttet. 1991 leiteten die Hersteller auf Druck der US-Umweltbehörde Maßnahmen ein, um die Verschmutzung zu vermindern. Offensichtlich mit Erfolg. Die Autoren bezweifeln, dass dies allein die große Diskrepanz erklären kann. Ist das Plastik also längst in kleinste Partikel zerrieben und von den Meeresbewohnern aufgefressen worden?

Mikroplastik nennen Forscher diese Form des Mülls. Um die genaue Definition des Begriffs streiten Wissenschaftler zwar noch, aber in der Regel fällt darunter alles, was kleiner als fünf Millimeter und größer als einen Mikrometer ist (ein Mikrometer ist ein millionstel Meter). Das klingt harmlos, aber womöglich ist das die noch gefährlichere Seite des Plastik-Problems. Die Partikel sind so winzig, dass nicht nur Fische sie fressen, sondern sogar Plankton – und mit ihnen all die gebundenen Giftstoffe. Weil das Plankton am Anfang der marinen Nahrungskette steht, könnte mit jeder weiteren Stufe die Menge an Kunststoff und Chemikalien kumulieren. Und am Ende landet die Plastiksuppe auf unserem Teller. Slats gigantische Filteranlage mag vielleicht das Makroplastik-Problem lösen, aber am Mikroplastik scheitert auch er. Die Anlage kann nur Teilchen größer als 35 Millimeter herausfischen. Das Mikroplastik schwebt für gewöhnlich tiefer als drei Meter.