Der Junge Mann und das Meer

Inhaltsverzeichnis

Gerd Liebezeit kennt das Problem nur zu gut. Schließlich war er der Erste, der das Thema Mikroplastik in Deutschland auf die Agenda gesetzt hat. Liebezeit zupft an seinem Pulli – reine Baumwolle. Auch wenn sie praktisch sind, Liebezeit trägt keine Fleecepullis, weil er weiß, dass die nicht gut sind. Bei jedem Waschgang reibt die Maschine aus ihnen bis zu 2000 Kunststoff-Mikrofasern heraus, die ins Abwasser gelangen. Er seufzt. "Das kleine Plastik ist längst überall." Er zeigt aus dem Fenster seines Hauses in den Garten: "Es ist in Regentropfen, in der Erde, auf den Blumen." Kürzlich hat er Mikroplastik sogar im Honig gefunden. Eigentlich ist der gemütliche Holsteiner, der bis vor Kurzem Abteilungsleiter des Instituts für Meereschemie der Universität Oldenburg war, schon in Rente. Aber seit diesem Fund ist er ständig mit Interviews beschäftigt. Denn das Thema kocht seit Monaten immer wieder hoch.

Gerd Liebezeit ist normalerweise die Ruhe selbst. Aber bei diesem Problem wird der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht, den kurz geschorenen Haaren und dem Zupfbärtchen emotional. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass aus dem großen Plastikmüll früher oder später Mikroplastik wird, stellt die Industrie die kleinen Teilchen auch noch tonnenweise her. Liebezeit holt eine Tube mit Hautpeelingcreme und dreht sie um. Unter den Inhaltsstoffen zeigt er auf das Wort "Polyethylene": Plastikkügelchen, Microbeads genannt. Sie sind auch in Zahnpasta, Hautcremes, Duschgels und Windeln. Liebezeits Frau kommt mit einer Tasse Kaffee, sie reicht einen gehäuften Teelöffel – das Pulver darauf sieht aus wie Zucker. "Tun Sie das besser nicht in den Kaffee", sagt sie. Als sie etwas Wasser auf den Löffel gießt, wird klar, warum.

Es dauert nur wenige Sekunden, bis das Wasser ganz verschwunden ist. Das Pulver ist nun eine glitschige Masse. Es ist Natriumpolyacrylat und saugt in Windeln die Flüssigkeit auf. Seit etwa zehn Jahren gibt es immer mehr Produkte mit Mikroplastikkügelchen. Sie seien, so die Begründung der Hersteller, viel schonender für Haut und Zahnschmelz.

Auch im Genfer See und in den Großen Seen in den USA haben Forscher die Feinstpartikel schon gefunden. Christian Laforsch, Tierökologe am Bayreuther Zentrum für Ökologie und Umweltforschung, entdeckte im Gardasee sogar "mehr als 1000 Teilchen pro Quadratmeter". Das sind vergleichbare Werte zu denen im Meer.

Wie das Mikroplastik dorthin kommt, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich gelangt es mit dem Wind und dem Regen aus Mülldeponien ins Wasser. Nun will Laforsch im Auftrag des Bayerischen Umweltministeriums wissen, wie stark bayerische Gewässer schon mit Mikroplastik kontaminiert sind und welche Auswirkungen es auf Tiere hat. Bisher gibt es nur wenige Untersuchungen an Meeresmuscheln, Wasserflöhen, Schnecken und Würmern. Bewiesen ist, dass die Tiere die Teilchen aufnehmen. Bei den Muscheln ging das Mikroplastik durch den Verdauungstrakt ins Gewebe und verursachte Entzündungen. "Auch Wasserflöhe lagern sie ein", sagt Laforsch. "Die in ihnen enthaltenen Weichmacher könnten möglicherweise hormonelle Wirkungen entfalten."

Hersteller haben zwar vereinzelt verkündet, auf Mikroplastik verzichten zu wollen, beispielsweise Unilever. Zeitlich festlegen wollen sie sich jedoch nicht. Dabei gäbe es Alternativen. Forscher vom College of William and Mary in Virginia haben biologisch abbaubare PHA-Microbeads erfunden und patentieren lassen. Oder man greift wieder auf Altbewährtes zurück: "Sägespäne, Schlämmkreide, Muschelschalen", sagt Liebezeit. "Kann man alles fein genug zermahlen." In den USA haben einzelne Staaten auch schon Microbead-Verbote eingeleitet. Illinois will Kosmetika mit Mikroplastik ab 2019 verbieten. Kalifornien und New York haben ähnliches vor. Und verschiedene NGOs fordern unter der Kampagne "Stop the Microbead!" sogar ein weltweites Verbot der Kügelchen.

Bis es so weit ist, gelangen die Microbeads jedoch weiter tonnenweise ins Abwasser – und darüber in die Umwelt. Wie viel genau, will Gunnar Gerdts vom Alfred-Wegener-Institut herausfinden. Er untersucht derzeit das Abwasser und den Klärschlamm mehrerer Kläranlagen, um herauszufinden, ob sie die Kleinstpartikel durchlassen oder nicht. Falls ja, müsste man die Kläranlagen mit teuren Membranfiltern nachrüsten.

Ergebnisse will Gerdts noch nicht verraten, er ist jedoch optimistisch, dass zumindest das meiste mit dem sehr fetthaltigen Klärschlamm aus dem Wasser eliminiert wird. Einen Hinweis darauf, dass dem tatsächlich so sein könnte, hat Christian Laforsch bei seinen Untersuchungen am Gardasee gefunden: "Das Mikroplastik dort stammte fast ausschließlich aus zerfallenem Plastikmüll, der auf dem Landweg dorthin gelangte. Industrielles Mikroplastik aus Kosmetika haben wir nicht gefunden."Allerdings ist das nur ein schwacher Hinweis, denn es gibt am Zulauf des Sees keine großen Ortschaften und somit wenige Kläranlagen.

Wenn auch noch ungeklärt ist, ob die Anlagen ein wirksamer Filter für Mikroplastik sind oder nicht – klar ist auf jeden Fall, dass über Wind und Regen zerriebenes Plastik in die Gewässer und Meere gelangt. Aber vielleicht haben wir bei diesen Partikeln ja schon Hilfe, ohne es zu wissen?

Tracy Mincer staunte nicht schlecht, als er 2012 durch sein Mikroskop blickte. Der Forscher der Woods Hole Oceanographic Institution sah viele kleine Löcher auf der Oberfläche der Plastikstücke, die er mit seinen Kollegen aus dem Atlantik gefischt hatte. Löcher, wo eigentlich keine sein sollten, gerade einmal zwei Mikrometer groß. Und in ihnen, bequem eingebettet, waren runde Bakterien. "Es sah ganz so aus, als hätten sie sich in das Plastik hineingefressen", sagt Mincer. Die Löcher waren in Reihen oder Flecken angeordnet, wie kleine Kolonien. "Für sie ist der Plastikmüll wie ein kleines Riff", sagt Mincer. Plastisphäre taufte er diesen neuen Lebensraum. Hatten die Bakterien das Plastik angedaut?

Mithilfe von Elektronenmikroskopen, Spektroskopen und Genanalysen fanden die Meeresbiologen mehr als 50 verschiedene Bakterienarten. Unter den potenziellen Plastikfressern identifizierte Mincer auch alte Bekannte: Bakterien, die man in diesel- und ölverseuchten Gegenden aufgespürt hatte. Obwohl er nicht weiß, ob diese Spritfresser auch Plastik verdauen können, vermutet er, dass ihnen das vielleicht im Konzert gelingt. Dieser Fund speist Fantasien: Wäre es möglich, aus den Mikroben richtige Plastikfresser zu züchten?

Wolfgang Streit ist eine Landratte. Im Hamburger Botanischen Garten oder an der Elbe sucht der Mikrobiologe von der Universität Hamburg bakterielle Plastikfresser. Nicht, weil er das Mikroplastik-Problem lösen will, sondern weil Sportbekleidungs-hersteller nicht möchten, dass ihre synthetischen Stoffe bei jedem Waschgang unschöne Knötchen bilden. Die Firmen hätten gern die Enzyme aus dem Stoffwechsel der Plastikfresser-Bakterien, um sie Waschwasser zuzugeben und die Knötchen aufzulösen. Dass sie nebenbei auch noch Mikrofasern und -plastik zersetzen würden, wäre ein willkommener Beitrag für die Umwelt.

Davon ist Streit aber noch weit entfernt. Manche träumen daher davon, mit Gentechnik nachzuhelfen. Doch selbst wenn es solche Bakterien gäbe – natürliche oder künstliche –, sie hätten es in den Ozeanen nicht leicht. "Es ist einfach zu kalt, die biologische Aktivität ist viel geringer als an Land", sagt Tracy Mincer. Er hält es auch für gar keine gute Idee, einen Super-Plastikfresser zu züchten. "Angenommen, wir würden so ein Bakterium in die Müllwirbel schütten – früher oder später käme es zu uns zurück und würde dann auch all unser ,gutes' Plastik zerstören." Gar nicht zu reden von den Giftstoffen, die dann plötzlich freiwürden. Und wie wäre es, wenn man dann eben nur Enzymcocktails ins Meer geben würde? Wolfgang Streit schüttelt den Kopf: "Das ist gute Science-Fiction, wird aber nicht klappen. Die benötigten Mengen wären einfach viel zu groß."

In Binnengewässern hält er das aber "durchaus für denkbar". Ökologe Laforsch sieht solche biologischen Eingriffe hingegen äußerst kritisch: "Sie wissen nie, welche Folgen das haben kann." Was also tun? Weniger Plastik wegwerfen, auf abbaubares umsatteln. Und auf Boyan Slat hoffen. Gerade hat er eine neue Crowdfunding-Kampagne gestartet, um eine große Pilotanlage zu finanzieren und sein Konzept zu verfeinern. Zwei Millionen Dollar will er dieses Mal einsammeln. 500000 hat er schon und noch 89 Tage Zeit. In etwa fünf Jahren will er das Array bauen. "Über die Finanzierung mache ich mir keine Sorgen", behauptet Slat selbstbewusst. Einige reiche Persönlichkeiten haben bereits angeklopft. Bill Gates vielleicht? Oder Richard Branson? Slat lächelt. "Jemand in dieser Kategorie."

Und dann? "Ich werde sicher irgendwie involviert sein. Aber ich habe noch so viele Interessen. Mal sehen." Da ist das auf Eis gelegte Studium der Luft- und Raumfahrt, das er fortführen möchte. Auch im All gäbe es Aufgaben für ihn: "Der ganze Weltraummüll im Orbit", sagt Slat grinsend. "Den muss ja auch noch jemand aufräumen." (jlu)