Der Mensch in der Petrischale

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Aus solchen Zellen entstand am Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien unter der Obhut von Madeline Lancaster ein Gebilde, das für besonderes Aufsehen sorgte: ein menschliches Gehirn-Organoid, kaum erbsengroß, doch mit einer rudimentären Großhirnrinde und Ansätzen eines Hippocampus. Die Entstehungsgeschichte war nah dran an purem Zufall. "Eine normale zweidimensionale Schicht neuraler Stammzellen löste sich plötzlich von der Platte ab und bildete dreidimensionale Klumpen", erzählt Madeline Lancaster.

"Anstatt sie wegzuschmeißen dachte ich: Die sind cool, mal sehen, was passiert." Die Wiener Arbeitsgruppe forscht nun intensiv an einer verfeinerten Entwicklung. Ihre Gehirnorganoide erreichen inzwischen den Stand eines zwei Monate alten Embryos und überleben bis zu einem Jahr. Höhere Hirnfunktionen im Bioreaktor hält Jürgen Knoblich aus Lancasters Team aber für ausgeschlossen: "Je weiter sich das Gehirn entwickelt, desto komplexer wird es, und diese Art von Perfektion halte ich für undenkbar."

Nichtsdestotrotz lassen sich womöglich auch mit den Gehirnorganoiden neurologische Erkrankungen weit besser als in Nagetieren simulieren und erforschen, wie die Forscher bereits am Modell der Mikroenzephalie gezeigt haben. Menschen mit dieser Entwicklungsbesonderheit haben ein deutlich verkleinertes Gehirn. Programmiert man Hautzellen eines solchen Patienten zu Stammzellen um und lässt sie anschließend zu hirnartigen Gebilden heranwachsen, dann werden auch diese Organoide auffällig kleiner als solche, die aus Hautzellen Gesunder stammen. Repariert man dagegen vorher den Gendefekt, dann wachsen und entwickeln sich die Organoide ganz normal. "Wir können nun Gene überprüfen, die im Verdacht stehen, an Schizophrenie oder Epilepsie beteiligt zu sein. Wir beobachten einfach die Gehirnentwicklung in der Kultur", sagt Knoblich.

Während in Wien die Miniaturgehirne reifen, werden organähnliche Gewebekulturen anderswo bereits serienmäßig auf Chips gepackt und vermarktet, etwa von dem Berliner Start-up TissUse, einer Ausgründung der Technischen Universität Berlin und einer der Vorreiter der noch jungen Technologie. Ähnlich wie bei der Herstellung von Computerchips fräsen die Bioingenieure feine Kanäle und Kammern in Polymerplatten, die mit elektronischen Sensoren verschaltet werden können. Durchströmt vom Nährmedium, wachsen darin die Zellen von Lunge, Herz, Leber, Niere und Gehirn. Im Gegensatz zu früheren Zellkulturen besteht ein Organ auf dem Chip aus mehreren Zelltypen, ist aber im Vergleich zu Organoiden nur eine zweidimensionale, gebrauchsfertige Schicht. Damit lässt sich zum Beispiel testen, wie giftig ein neues Medikament auf verschiedene menschliche Organe wirkt. So ließen sich Tierversuche vermeiden. Zudem, so die berechtigte Hoffnung, könnten die Ergebnisse aussagekräftiger sein, weil die Zellen menschlichen Ursprungs sind.

"Industrie und Forschergruppen haben begeistert auf unser erstes Angebot reagiert", sagt Uwe Marx, CEO von TissUse. Vor drei Jahren hat Marx mit seinem Team den ersten Chip entwickelt, der zwei Organe – Leber und Haut – vereint. "Inzwischen haben wir auch andere Kombinationen im Angebot und sogar einen Chip mit vier Organen", berichtet Marx. So lassen sich die Stoffwechselwege eines Medikaments im menschlichen Körper nachbauen. Zum Beispiel baut die Leber einen Wirkstoff zu Dutzenden von Metaboliten ab, aber nur einer wirkt toxisch auf das Gehirn. Mit dem Leber-Hirn-Chip können Forscher das erkennen. Bis 2017 möchte TissUse in der Lage sein, möglichst alle relevanten Organe auf einen Chip zu packen.

Auch anderswo laufen derartige Bemühungen auf Hochtouren: In den USA haben die National Institutes of Health (NIH) und die Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) 2012 eine Initiative gestartet, die über insgesamt 133 Millionen US-Dollar Fördergelder verfügt. Am Wyss Institute der Universität Harvard hat ein Team um Donald Ingber auf einem elastischen Chip bereits eine Lunge gebaut, die Verformungen durch die Atembewegungen simuliert und in der sich die Reaktionen des Immunsystems auf Keime studieren lassen.

Am Draper Laboratory im amerikanischen Cambridge sind Jeff Borenstein und sein Team sogar dabei, eine ausgewachsene Ersatzlunge mithilfe der Chiptechnologie zu erschaffen. Patienten mit akutem Lungenversagen, denen keine künstliche Beatmung mehr hilft, bleibt als letzte Rettung nur, das Blut außerhalb des Körpers mit Sauerstoff anzureichern. Doch dabei gerinnt das Blut leicht und zwingt die Patienten, starke Gerinnungshemmer mit entsprechenden Nebenwirkungen einzunehmen.

Um das Milieu einer natürlichen Lunge weitmöglichst nachzuahmen, ist die "mikrofluide Lunge" aus Schichten von biokompatiblem Kunststoff aufgebaut. Mikrokanäle verzweigen sich darin wie im natürlichen Vorbild in immer feinere Verästelungen. Dadurch gerinnt das Blut seltener, und der Sauerstoffaustausch funktioniert besser. Die Gruppe hat kürzlich Flussraten von 100 Milliliter pro Minute mit Rinderblut demonstriert. Vom Durchfluss einer echten Lunge mit fünf Litern pro Minute in Ruhe ist der Wert noch weit entfernt, doch es ist ein Anfang. Nun wollen die Forscher das System vergrößern und in drei Jahren erste klinische Tests beginnen. (bsc)