Der Mensch in der Petrischale

In den letzten Jahren ist es gelungen, nahezu jedes menschliche Organ im Miniaturformat heranzuziehen, und selbst auf Mikrochips lassen sich organähnliche Gewebe kultivieren. Das eröffnet bahnbrechende Möglichkeiten.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Birgit Herden
Inhaltsverzeichnis

Das neue Medikament kommt für Fabian Schuchard als Rettung in der Not: Das Atmen fällt immer schwerer, über Wochen liegt der niederländische Teenager im Krankenhaus, der letzte Ausweg scheint ein Lungentransplantat zu sein. Fabian leidet an Mukoviszidose, seine Lunge und andere Schleimhäute sind mit zähem Schleim überzogen. Zwar gibt es seit Kurzem einige neuartige Wirkstoffe. Doch Mukoviszidose wird durch rund 2000 unterschiedliche Gendefekte verursacht, und der von Fabian ist einzigartig. Keine klassische Medikamentenstudie kann daher zeigen, welcher der Wirkstoffe ihm helfen könnte. Trotzdem gelingt Fabians Ärzten das scheinbar Unmögliche: Sie finden das passende Arzneimittel – und der heute 18-Jährige kann nun ein fast normales Leben führen.

Entscheidend für den Erfolg ist eine neuartige Technik, die seit einigen Jahren spektakuläre Fortschritte feiert: die Kunst, rudimentäre menschliche Organe, sogenannte Organoide, in Kulturmedien heranzuzüchten. Vor Fabians Behandlung testeten Forscher am niederländischen Hubrecht-Institut für Entwicklungsbiologie und Stammzellforschung das neue Medikament an Miniaturorganen, die alle mit Fabian genetisch identisch sind. Das Verfahren begann mit einer Gewebeentnahme im Dickdarm. Was dann geschah, mutet geradezu magisch an: Die Stammzellen aus der Darmschleimhaut teilten und differenzierten sich in dem Kulturmedium.

Eingebettet in ein Gel, wuchsen sie zu sphärischen, hohlen Gebilden heran, die zwar nur einen Durchmesser von einem Zehntelmillimeter hatten, aber die typischen Einstülpungen enthielten und sich wie ein Stückchen echter Darm verhielten. Die Fabian-Därme sprachen im Test deutlich auf einen Wirkstoff namens Kalydeco an, der für den Patienten die entscheidende Wende brachte.

"Wir können inzwischen so gut wie jedes Organ aus Stammzellen heranziehen", sagt Hans Clevers vom Hubrecht-Institut, einer der Pioniere auf dem Gebiet. Weltweit sprießen bereits Organe in Kulturgefäßen und sorgten immer wieder für Schlagzeilen. Ob Darm, Niere, Magen, Leber oder Gehirn – für die Grundlagenforschung sind sie ein unschätzbar wertvolles Werkzeug, bei der Wirkstoffsuche ersetzen sie Tierversuche, und selbst in der Diagnose und Therapie können sie wie im Fall von Fabian eingesetzt werden. In den Niederlanden entsteht bereits eine erste Biobank, die Hunderte der winzigen Knubbel tiefgefroren für Forschungszwecke bereithält.

Die Behandlung von Mukoviszidose ist für Hans Clevers nur ein Anfang. In Zusammenarbeit mit dem Nederlands Kanker Instituut (NKI) testet er derzeit den Einsatz von Organoiden bei der Behandlung von Darmkrebs. Dabei ziehen die Forscher Darm-Organoide aus Gewebeproben von Patienten, die eine Chemotherapie erhalten. "Die Patienten werden derzeit noch so behandelt, wie die Onkologen normalerweise vorgegangen wären, zugleich beobachten wir aber, ob wir mit den Organoiden den Behandlungsverlauf hätten vorhersagen können", erklärt Clevers. "Im Prinzip könnte das einmal so funktionieren wie heute schon bei einer Lungenentzündung. Man legt eine Bakterienkultur an und testet, auf welches Antibiotikum ein Keim anspricht. Entsprechend werden wir vorhersagen können, welche Chemotherapie die besten Aussichten hat, und so den Patienten unwirksame und belastende Behandlungen ersparen."

Entscheidend in Clevers' Arbeit waren zwei Entdeckungen: Organspezifische Stammzellen sind keineswegs so selten wie lange angenommen. Und sie lassen sich mithilfe eines bestimmten Markerproteins identifizieren. Im Darm befinden sich in jeder der winzigen Vertiefungen der Darmschleimhaut Stammzellen und sorgen für die beständige Erneuerung des Organs. Außerdem kann eine einzelne Darmstammzelle, zumindest im Prinzip, einen neuen Darm hervorbringen. Clevers hat damit das lange geltende Dogma widerlegt, gemäß dem sich nur Krebszellen beliebig lang in Kulturen vermehren lassen – Organoide bleiben über Monate oder sogar Jahre hinweg stabil. Zudem lassen sich Organoide beliebig vermehren. Dabei wird der Zellverband mithilfe von Verdauungsenzymen aufgelöst, und aus den einzelnen Zellen entwickeln sich erneut Organoide."

Ein anderer Weg beginnt mit embryonalen Stammzellen. Die Zellen eines Embryos können anfangs noch jedes Gewebe ausbilden. Doch da zu ihrer Gewinnung die Zerstörung von menschlichen Embryonen in deren frühester Entwicklungsphase erforderlich ist, bleibt die Verwendung solcher Zellen ethisch sehr umstritten. Seit etwa zehn Jahren können Wissenschaftler allerdings auch normale Zellen aus einem Erwachsenen zu "induzierten pluripotenten Stammzellen" reprogrammieren, die sich dann auch wieder zu jedem Zelltyp differenzieren lassen.