Dermanostic oder Onlinedoctor: Entscheidung des OLG Hamburg wird viel diskutiert

Zwei Anbieter von Online-Hautchecks konkurrieren um eine TK-Ausschreibung, der bisherige gewinnt einen Rechtsstreit. Warum das für Diskussionen sorgt.

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Ärztin am Laptop im Homeoffice

(Bild: fizkes/Shutterstock.com, bearbeitet durch heise online)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Dr. Maximilian Wagner
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Beschwerden schildern, Fotos hochladen, fertig – seit drei Jahren bietet die Techniker Krankenkasse (TK) Versicherten eine fachärztliche Online-Beratung zu Hautproblemen an. Im Jahr 2022 wurde die Ausschreibung des Kooperationsprojekts erneuert, anschließend ging der bisherige Partner gerichtlich gegen einen Mitbewerber vor. Die Entscheidung könnte Folgen für die gesamte Gesundheitsbranche haben – und wirft ein Schlaglicht auf die deutsche Start-up-Szene.

Eine Analyse von Maximilian Wagner

(Bild: 

Robert Becker

)

Maximilian Wagner ist seit 2022 Rechtsanwalt der Technologiekanzlei Schürmann Rosenthal Dreyer Rechtsanwälte und unter anderem spezialisiert auf das Datenschutz- und IT-Recht.

Medizinprodukte, die in der Europäischen Union vertrieben werden – dazu zählen Herzschrittmacher, Kondome, aber eben auch bestimmte Software-Anwendungen –, müssen Anforderungen erfüllen und werden dazu in verschiedene Risikoklassen eingeteilt. Je höher das Risiko für den Anwender, desto schärfer die Anforderungen an den Hersteller. Die Medizinprodukt-Verordnung unterscheidet insofern zwischen geringem, mittlerem, erhöhtem und hohem Risiko (Klasse I, IIa, IIb und III), eine Einstufung hängt maßgeblich von der Zweckbestimmung ab und erfolgt nach Klassifizierungsregeln.

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Software-Anwendungen wie "Online-Hautchecks" sind nach Klassifizierungsregel 11 in Anhang VIII der Medizinprodukte-Verordnung grundsätzlich Risikoklasse I (geringes Risiko) zugeordnet. Von diesem Grundsatz sieht die Regel allerdings mehrere Ausnahmen vor. So gehört eine Anwendung, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, beispielsweise zu Risikoklasse IIa (mittleres Risiko).

Eine solche Einstufung hat erhebliche Auswirkungen auf den Hersteller. Denn mit dem vermuteten Risiko steigen die tatsächlichen Anforderungen. Hersteller von Medizinprodukten mit geringem Risiko können die Konformität ihrer Produkte mit den Anforderungen der Medizinprodukt-Verordnung selbst erklären, bei Produkten der Klasse IIa und höher ist dagegen die Mitwirkung einer benannten Stelle erforderlich – der Marktzugang wird langwierig und kostspielig. Daher haben gerade kleine und mittlere Unternehmen, die ihre Produkte als Medizinprodukte vermarkten wollen, ein Interesse daran, sie gleichwohl als Medizinprodukte mit geringem Risiko zu bewerben und so das aufwändige Konformitätsbewertungsverfahren zu umgehen.

Genau das wurde Dermanostic nun zum Verhängnis. Das Unternehmen, 2019 von vier Ärzten in Düsseldorf gegründet, hatte eine Anwendung zur asynchronen Untersuchung von Hautveränderungen entwickelt. Anwender konnten über eine App adaptive Fragebögen beantworten und Handyfotos an Hautärzte übermitteln. Adaptiv heißt in diesem Fall, dass eine einmal gegebene Antwort, die weiteren Fragen verändert. Wer beispielsweise angibt, dass die Fotografierte drei Jahre alt ist, muss die Frage nicht beantworten, ob sie schwanger ist.

Das Problem? Dermanostic bewarb die eigene App nicht nur als "Hautarztpraxis aus der Hosentasche", sondern auch als Medizinprodukt geringer Risikoklasse. OnlineDoctor sah hierin einen Wettbewerbsverstoß und ging zunächst außergerichtlich gegen Dermanostic vor. Auf die Abmahnung folgte ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, auf den Beschluss die sofortige Beschwerde, auf die einstweilige Verfügung der Widerspruch – und auf das Urteil Berufung. Dabei ging es in den verschiedenen Instanzen stets um die gleiche Frage, nämlich darum, ob Dermanostic die eigene Anwendung falsch eingestuft und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil erschlichen hatte.

OnlineDoctor argumentierte, die Anwendung von Dermanostic sei dazu bestimmt, Antworten und Bilder an Ärzte zu übermitteln und liefere also Informationen zur Diagnose – mehr verlange die Klassifizierungsregel nicht. Darüber hinaus entscheide die Software aufgrund bereits gegebener Antworten, welche Fragen einem Anwender gestellt werden, und nehme so Einfluss auf die Anamnese. Daher sei die Anwendung in Risikoklasse IIa oder höher einzustufen.

Dermanostic hielt dagegen. Das Unternehmen argumentierte, dass es nicht allein auf den Wortlaut, sondern maßgeblich auf den Zweck der Regelung ankomme. Bei einer reinen Datenübermittlung sei kein Risiko denkbar, das durch ein Konformitätsbewertungsverfahren ausgeräumt werden könne. Für die Einordnung in Risikoklasse IIa oder höher sei ein (eigener) Beitrag der Software erforderlich. Und die Anwendung zeige lediglich die von Ärzten vorgegebenen Fragen und übermittele die von Anwendern gegebenen Antworten.

Das Hanseatische Oberlandesgericht gab OnlineDoctor recht und verbot Dermanostic den weiteren Vertrieb der Anwendung. Der Wortlaut der Klassifizierungsregel verlange lediglich, dass die Anwendung Daten liefere – für eine einschränkende Auslegung sei kein Raum, da die Medizinprodukt-Verordnung hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards in der Fläche sicherstellen solle. Darüber hinaus leite die App die Daten auch nicht bloß weiter, sondern strukturiere ihre Erhebung. Das dadurch erhöhte Risiko könne und müsse also durch eine Konformitätsbewertung ausgeglichen werden.

Die finale Entscheidung wird seither kontrovers diskutiert. OnlineDoctor, ein Unternehmen, das selbst eine ähnliche Anwendung gleicher Risikoklasse vertreibt, aber aktuell von einer Übergangsregelung profitieren, spricht von einem "wegweisenden Urteil" und fühlt sich bestärkt: "Uns als Team bestätigt das Urteil darin, den hohen Zeitaufwand und die Kosten in die Zertifizierung als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa zu investieren", kommentiert der Geschäftsführer Tobias Wolf. Es könne keine Rede davon sein, dass man lediglich einen direkten Konkurrenten habe ausbremsen wollen.

Dermanostic reagierte gefasst – mit einem Neustart der Anwendung und einer Anpassung der Zweckbestimmung: Die Adaptivität des Anamnesebogens wurde deaktiviert; außerdem heißt es auf der Website nun, die Anwendung diene lediglich der Verbesserung des Patientenmanagements und der Unterstützung der Arzt-Patient-Kommunikation. In den sozialen Medien schreibt eine Gründerin nicht ohne Hintergedanken, man solle lieber Hand in Hand an der Verbesserung des Systems arbeiten, anstatt Reibung untereinander zu erzeugen.

Die Diskussion kreist vor allem um drei Fragen: Hat das Hamburger Gericht im Ergebnis falsch entschieden? Droht Telemedizin-Start-ups das Aus? Hat OnlineDoctor den erfolgreichen Konkurrenten taktisch gefoult? Vermutlich lautet die Antwort auf alle drei Fragen: Nein. Das Hamburger Gericht hat eine vertretbare Entscheidung gefällt, jedenfalls im Ergebnis. OnlineDoctor hat sich für den aufwändigen Weg einer Zertifizierung nach Klasse IIa entschieden. Das Unternehmen wurde dafür mit einer Übergangsregelung belohnt und hat diese Übergangsregelung – jedenfalls in rechtlicher Hinsicht – klug genutzt. Dermanostic hat sich in gewisser Hinsicht für den umgekehrten Weg – gegen eine Zertifizierung und für ein eher kühnes Marketing – entschieden. Die damit verbundenen Risiken haben sich im Hamburger Verfahren konkret realisiert. Wie sich beide Strategien langfristig auf die eigene Marke auswirken – und wer die Ausschreibung der TK letztlich gewinnt – wird sich noch zeigen. Über die Auslegung wird früher oder später der Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden.

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(mack)